Von "Je suis Charlie“ zur SelbstreflexioN

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Wenn die Bestürzung über den Anschlag von Paris nicht zur Heuchelei und bloßen Phrase werden will, muss sie (selbst-)kritische Fragen stellen. Sechs Anregungen.

Der schreckliche Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo löste eine Welle der Betroffenheit aus, die einerseits Solidarität mit den Opfern zum Ausdruck brachte und andererseits als ein klares Bekenntnis zu Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit, kurz den Werten der Aufklärung, verstanden werden sollte. Zur Aufklärung gehört einerseits die objektivierende Reflexion, die systematisch nach Begründungszusammenhängen fragt (Was sind die Ursachen des Anschlages? Was waren die Motive der Täter …), andererseits aber auch die Selbstreflexion, die radikal den eigenen Standpunkt infrage stellt. Die Bestürzung muss nun auch zur Selbstreflexion führen, wenn sie nicht zur Heuchelei werden will. Die folgenden Zeilen versuchen einige mögliche Fragerichtungen anzuzeigen.

"Wir sind Charlie“ und "Wir sind Kaiser“

1 Das Attentat wurde binnen kurzer Zeit zu einem medialen Ereignis, das vor allem eine Botschaft transportierte: "Je suis Charlie“ bzw. "We are Charlie“. Diese Solidaritätskundgebung ist beeindruckend, aber ambivalent. Mit nur einem Klick auf Facebook ist es möglich, auf der Seite der "Guten“ zu stehen. Der niedrige Preis dafür lässt befürchten, dass die Solidarität folgenlos bleibt. Mit derselben Formulierung werden ganz andere, banale Formen der Kollektiv-Identifizierung betrieben: "Wir sind Papst“, "Wir sind Kaiser“, "Wir sind die meiste Musik“ …

Die Kultur der Aufklärung beruht darauf, dass jede und jeder einen unverwechselbaren Namen trägt, der eine unvertretbare Singularität zum Ausdruck bringt. Die Ermordeten sind nicht ersetzbar, wir können - und das ist die Tragik - nicht an ihre Stelle treten. Sie bleiben zurück als Lücke, als Fehlende, und als solchen ist ihnen die Treue zu halten. Darüber hinaus ist große Zurückhaltung geboten bei der "Einfühlung“ und Identifizierung mit Opfern - wir stehen eben nicht an ihrer Stelle.

Die kollektive Identifizierung mit Charlie läuft Gefahr, die eigentliche Problematik zu verbergen, die uns der Anschlag bewusst machen kann: unsere Ratlosigkeit im Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, den Andersgläubigen und ihren Sorgen und Nöten, mit dem, womit wir uns gerade nicht identifizieren können. Die unendliche Mühe beginnt dann, wenn wir uns der Frage aussetzen, wie wir das anerkennen können, was wir nicht sind und was in unsere Lebenskonzepte nicht integrierbar ist.

2 Die Verteidigung demokratischer Werte, die eine wichtige Reaktion auf den Anschlag darstellte, wird zur Heuchelei, wenn sie nicht mit der Frage verbunden ist, wie die Möglichkeiten der Partizipation an den demokratischen Instrumenten und der medialen Öffentlichkeit tatsächlich aussehen: Wie kommen Muslime in den Medien vor? Warum gibt es noch immer keine Sprecherinnen der Hauptnachrichten mit Kopftuch? Wo werden Migrantinnen und Migranten als mitgestaltende Kraft in der Gesellschaft sichtbar? Wie viele Menschen, die irgendwelchen so genannten "Randgruppen“ angehören, sind auf den Kandidatenlisten der politischen Parteien zu finden? Wäre es nicht ein Zeichen der Anerkennung, wenn der Songcontest 2015 von Österreicherinnen mit albanischer, bosnischer oder türkischer Herkunft moderiert würde? Wäre es nicht denkbar, dass bei den nächsten Bischofsernennungen im deutschsprachigen Raum einer der vielen hier wirkenden nigerianischen Priester zum Zug käme?

3 Der Anschlag auf Charlie Hebdo löste nicht zuletzt deshalb so große Aufmerksamkeit aus, weil er in einer der Hauptstädte Europas erfolgte und gegen wesentliche europäische Errungenschaften gerichtet war. Die sofort einsetzende Verteidigung universaler Grundwerte droht jedoch eurozentristisch zu bleiben. Dass zur selben Zeit, als sich die Tragödie von Paris zutrug, Boko Haram die nordnigerianische Stadt Baga stürmte und dabei 2000 Menschen ermordete, fand deutlich weniger Beachtung. Die sich daran anschließenden Aufrufe der Präsidenten von Nigeria und Kamerun um internationale Hilfe gegen Boko Haram haben in Europa kaum Gehör gefunden. Das Morden der Terrorsekte, die im Begriff ist, ein Kalifat zu errichten und deren Name "Bildung ist Sünde“ bedeutet, dient nicht allein territorialen Ansprüchen, sondern tritt bewusst gegen die Werte der Aufklärung an.

Selbstzensur bei Recherche?

4 Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo gab es von Seiten der Medien eine deutliche Absage an Formen der Selbstzensur. Kritische und satirische Berichte dürften nicht der Angst vor radikalen Reaktionen zum Opfer fallen. Dieses Bekenntnis droht dann zur Heuchelei zu werden, wenn die Medien nicht beginnen, die Finanzströme zu untersuchen, die den organisierten internationalen Terror erst ermöglichen. Welche Selbstzensur verhindert es zu fragen, welche Staaten und Konzerne direkt oder indirekt in die großen Terrormaschinerien verwickelt sind?

5 Die Alternative lautet nicht religiöser Fundamentalismus versus säkulare Moderne, denn der gegenwärtige Fundamentalismus ist ein Phänomen der Moderne. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Politik muss sich der Frage stellen, ob der Terror lediglich einer Beleidigung religiöser Gefühle entspringt oder sich in dieser Gekränktheit nicht vielmehr die vielfältigen westlichen Demütigungen afrikanischer und arabischer Staaten in der Kolonial- und Nachkolonialzeit kanalisieren. Die Frage an die Religionen - und zwar an alle - lautet, wie sie selbst aus ihren Quellen Potentiale gegen Radikalisierung und Fundamentalismus aufbieten können.

6 Von Kierkegaard, der leidenschaftlich um die Religion ringt, könnten die Glaubensgemeinschaften gegenüber Satire jene Gelassenheit lernen, die darum weiß, "wie außerordentlich dumm es ist, das Christentum zu verteidigen […], indem es das Christentum zu einem so kümmerlichen Dinge macht, das am Ende gerettet werden könnte durch eine Verteidigung. […] Wer es verteidigt, der hat nie daran geglaubt.“ Das gilt für alle Religionen in gleicher Weise.

Der Autor ist Benediktiner und Fundamentaltheologe an der Universität Wien

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