6811679-1972_38_01.jpg
Digital In Arbeit

Zerbrochene Ringe

Werbung
Werbung
Werbung

Nathan der Weise, Sultan Saladin, der Templer reichen einander die Hände: der Jude, der Araber und der Christ weisen den Weg in eine aufgeklärte Liberalität, in der konfessionelle und nationale Konflikte keinen Platz finden ...

Lessings Ringe, die er zur Parabel für seine Zeit miteinander verband, zerbrachen im Morgengrauen eines Septembertages weit weg vorn Schauplatz seines klassischen Schauspiels, auf einem Militärflugplatz mitten in Europa. Dort, in Fürstenfeldbruck, schössen Christen auf Araber, Araber auf Juden, Araber auf Christen. Nicht in einem erklärten Krieg, sondern auf die wohl bestialischeste und grausamste Weise, die selbst Science-fiction-Autoren unserer Tage unwahrscheinlich erschienen wäre.

Die Ereignisse vor und in Fürstenfeldbruck beweisen einer nicht eben selten naiven Menschheit aufs neue, daß es mit der Forderung nach besserer Einsicht in die Dinge des Lebens nicht weit her ist. Der Mensch bleibt dem Menschen so lange ein reißender Wolf, solange nicht die Kenntnis des Guten und die Bereitschaft zum Guten zur obersten Maxime zwischenmenschlichen Verhaltens wird.

Die Religionen hätten ausgespielt: so eben wurde Gottfried Ephraim Lessing zu seiner Zeit mit dem „Nathan“ mißverstanden. Ein sich agno-stisch deklarierender Liberalismus vermeinte leichthin, auf die Botschaft der Kirche verzichten zu können und an ihrer Stelle den Altar menschlich-überheblicher Vernunft aufrichten zu können.

Seither sind 200 Jahre vergangen. In Fürstenfeldbruck ist eine Anti-ringparabel buchstäblich der gesamten Welt erzählt worden, die sich unter fünf Ringen symbolisch als Einheit verstanden wissen wollte.

Der Liberalismus der Erben Lessings ist vom weißen, braunen und schwarzen Nationalismus abgelöst, vom Kommunismus bis zur Bestialität pervertiert worden, ein panarabischer Sozialismus steht auf seinen Trümmern und ein gnadenloser Kapitalismus beherrscht einen Großteil der Welt. Die Menschheit hat — so will es scheinen — nichts gelernt, keine Evolution zum Guten mitgemacht.

Und gerade im Lande des Herrn, zwischen dem See Genezareth und dem Roten Meer, zwischen den Wüsten rund um den Berg Sinai und dem heiligen Fluß Jordan, tobt ein Konflikt, der nunmehr schon mehr als ein Vierteljahrhundert andauert und dessen Ende um so weiter entfernt scheint, je mehr die Diplomaten zwischen Kairo und Jerusalem, New York und Moskau herumreisen. Regel in diesem Konflikt: Aug um Auge, Zahn um Zahn. Vergeltung ist das Wort, das die Parteien in diesem Konflikt am stärksten strapazieren.

Nun ist dieser Konflikt endgültig von seinem Schauplatz wegeskaliert, mitten in die Städte und auf die Flugplätze weit entfernter Länder anderer Kontinente; er hat die Welt in Unsicherheit gestürzt und die Kommunikation von Land zu Land gefährdet. Und er hat Unbeteiligte. Neutrale, Fernstehende zu Mitbeteiligten, Engagierten gemacht. Wir alle stehen mitten drinnen — es geht uns nicht nur etwas an — es kann schon morgen auch unser Leben, unsere Gemeinschaft betreffen. Das ist der eigentliche Schock dieser Septembertage von München.

Lösungen? Wege aus dem Dunkel der Anarchie?

Was wir in diesen Tagen erleben, ist das Erbe einer Entwicklung, die nicht allein aus einem politischen Fehlverhalten, einer nationalen Ver-irrung, einem diplomatischen Versagen zu erklären ist. Die Wurzeln liegen einfach in der totalen Mißachtung der menschlichen Existenz, in der Pervertierung von gesellschaftlichen Zielen, in einem tiefliegenden Fanatismus und dm Entstehen einer Atmosphäre, in welcher der Hass das eigentliche Triebelement ist.

Und Allah hat keinen Platz mehr in den Hirnen der Mörder von München, den Koran hat die Mao-Bibel abgelöst, die Terror und Subversion lehrt. Und doch: steht es uns an, auf Andersgläubige mit dem Finger zu zeigen, so zu tun, als wären die Methoden der Palästinenser so abseits der Normen jener Welt, die sich — manchmal zumindest — noch immer „christlich“ nennt? Schießen nicht Katholiken auf Protestanten und Protestanten auf Katholiken im Zeichen ebenso pervertierter Zielvorstellungen? Ist der Terror in Nordirland ein anderer als jener zwischen Juden und Arabern?

Das eben ist es: daß wir das Innerste \des Menschen nach außen gekehrt sehen, wenn die Gesellschaft meint, auf Gott verzichten zu können oder Gott dazu benützt, Mord und Terror gutzuheißen.

Der Abschied von Gott fällt mit dem Abschied vom Naturrecht zusammen; das Naturrecht, daß „du nicht töten sollst“, wird als erstes geopfert: als lebensunwertes Leben, rassisch minderwertiges Leben, Leben anderer Konfessionen, israelisches, arabisches Leben, kommunistisches, antikommunistisches Leben.

So schießt man allerorts, wirft Bomben, nimmt unschuldigen Geiseln das Leben, führt Strafexpeditionen und macht aus Mördern Helden. Machiavelli triumphiert.

Nur die Kirche verkündet, mitten in dieser Welt, ihre Botschaft: unbeirrt durch den Gang der Welt, unbeirrt auch von Fehlern in ihr selbst; die Botschaft, daß zur Liebe Gottes die Liebe zum Nächsten gehört. Und daß dieses Gebot unteilbar ist.

So ist diese Botschaft im Grunde die einzige, die den Konflikt, dessen Zeugen wir sind, beenden kann; besser als Sicherheitsvorkehrungen und diplomatische Missionen.

Die Kirche bietet keine Patentrezepte an, sie liefert keine kasuistischen Anweisungen für die Gesellschaften in dieser Welt. Aber sie sagt mit den Worten des Herrn immer wieder den Menschen, daß Gewalt und Tod weltliche Probleme nicht lösen können.

Heute muß sie lauter denn je ihre Stimme gegen die Gewalt erheben, da auch im Gefolge einer entarteten Theologie Gewalt als Möglichkeit der Befreiung angeboten wird.

Machen wir den Menschen besser; dann wird die Menschheit besser werden. Der Ruf Gottes gilt allen: er ist aktueller denn je: Die Kirche als Verkünderin der stärksten moralischen Kraft auf dieser Erde ist aufgerufen, einer zutiefst entwurzelten und entsetzten Welt die Antwort auf das „Wie“ des Weges aus der Gewalt zu geben.

Dann ist sogar das Entsetzen dieser Münchner Septembernacht des Jahres 1972 nicht vergebens gewesen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung