Das Sinn-(liche) Ich

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Ein Plädoyer zur Privatisierung der Sinnfrage.

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Ein Plädoyer zur Privatisierung der Sinnfrage.

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Das hat doch keinen Sinn, was der (oder die) macht", ist eine geflügelte Redewendung, wenn sich zwei über jemanden - in aller Regel abwesenden - Dritten unterhalten. "Glaubst Du, das macht Sinn?", fragen auch gute Freunde einander. Wenn vom Sinn der menschlichen Existenz die Rede ist, dann meistens von jenem der Anderen, und da vor allem vom Un-Sinn. Die selbstreflexive Frage nach dem Sinn des - eigenen - Lebens wird selten gestellt - stellen wir uns selten.

Jugendliche stolpern über die Frage nach dem Sinn ihrer Existenz während ihrer alles und alle in Frage stellenden Adoleszenz, jener unvermeidbaren Lebensphase, in der der Feinschliff zur erwachsenen Ich-Persönlichkeit als Symbiose von Trieb- und Normsteuerung erfolgt. Die jugendliche Sinnfrage verstehe ich als Mechanismus zur Ausbildung einer individuellen Persönlichkeit und eigener Werte und Werthaltungen.

Erwachsene begegnen der Sinnfrage in Phasen depressiver Verstimmung, wenn sie "aus der Bahn" ihres Alltagslebens geworfen werden (etwa bei Verlusterlebnissen wie Tod, Scheidung und Arbeitslosigkeit) und zur einschlägig berüchtigten Lebensmitte. Die Sinnfrage im Erwachsenenalter geht einher mit einer Irritation der individuellen Persönlichkeit, der eigenen Werte und Werthaltungen. Ganze Kodizes werden in Frage gestellt und neu definiert. Die Sinnfrage kann in diesem Zusammenhang ebenfalls als ein Prozess zur Individualisierung beziehungsweise Re-Individualisierung aufgefasst werden.

Die persönliche "Sinnkrise" motiviert zur Frage nach dem Sinn während beziehungsweise nach einer gesundheitlichen, familiären, beruflichen oder sonstigen unerwarteten Krise. Ohne Krise stellt sich in der Regel die Frage nach dem Sinn des - eigenen - Lebens nicht. Damit eröffnet sich ein Paradoxon: Wenn und solange alles störungsfrei läuft, beschäftigen wir uns kaum mit dem Sinn unseres Lebens, sondern erst dann, wenn Sand ins Getriebe unseres Alltags kommt. Dann suchen wir nach dem größeren Kontext unserer Existenz, dann stellen wir uns die Frage nach dem "Wozu". Die Krise ist die Triebfeder einer bewussten Auseinandersetzung mit unserer irdischen Existenz, während wir Menschen eher Anlassdenker und Sinnierer nach Bedarf sind.

Es haben sich Sinnierer und Krisenmanager von Berufs wegen herausgebildet: Theologen und Philosophen an den Universitäten, Mönche und Nonnen in Klöstern, Lebensberater und Marketingexperten allerorts - ganze Berufsstände versuchen sich an der Befriedigung der Sinnfrage, beschäftigen sich mit den existenziellen Fragen unseres Daseins, oft geben sie die Antwort noch vor der Fragestellung. Eine Art "Outsourcing" der Sinnfindung in einer arbeitsteiligen Gesellschaft: Während die einen dafür sorgen, dass die Produktivität steigt (und "das Werkl läuft"), haben sich eigene Sinn-Spezialisten herausgebildet.

Der Weg ist das Ziel Darin liegt die Crux des zeitgenössischen Sinnfragens: Verstehen wir die Frage nach dem Sinn unseres Lebens als Teil der Individualisierung eines beziehungsweise einer jeden Einzelnen, dann kann der Sinn des Lebens nicht produziert und auch nicht als Massenware gehandelt werden. Dann ist die Frage nach dem Sinn des Lebens eine private, individuelle und autonome Angelegenheit - vergleichbar und in enger Beziehung stehend mit der Frage nach dem menschlichen Gewissen: Gewissen-haftes Denken und Handeln ist stets auch Sinn-haftes Denken und Handeln - und umgekehrt. Die Normierung des Sinns, der Sinnfrage - und vor allem der Beantwortung - ist unmöglich, jedenfalls gilt das für alle nicht säkular-totalitären beziehungsweise nicht religiös-fundamentalistischen Gesellschaften. Die Frage nach dem Sinn ist individuell und selbstreflexiv und nicht kollektiv und projizierend zu stellen.

Die Sinnfrage kann von der individuellen menschlichen Existenz nicht abgekoppelt werden. All jene, die allgemeingültige inhaltliche Sinnkonzepte entwickelt haben, sind letztendlich gescheitert. Die Sinnfrage ohne Berücksichtigung der Sinnlichkeit - Sinneswahrnehmungen ebenso wie unser individuelles komplexes Gefühlsleben - ist absurd. Mehr noch: "Wer zum reinen Geist werden will, der wird zum reinen Tier", schrieb der französische Philosoph, Mathematiker und Physiker Blaise Pascal (1623-1662). Die Frage nach dem Sinn unserer Existenz ist integrativ zu verstehen, sie schließt alle unsere Lebensbereiche mit ein: unser Fühlen und Denken und unsere Triebe. Vergessen wir auf einen Bereich unseres Seins, oder klammern wir ihn bewusst aus, so reduzieren wir die menschliche Existenz und unsere Ich-Persönlichkeit von vornherein. Die Frage nach dem Sinn führt dann vielleicht zu einfacheren, aber sicher falschen Antworten.

Was ist nun der Sinn des Lebens? Die einzig mögliche allgemein gültige Antwort kann man als "Sinn-Schöpfungsauftrag" an jeden einzelnen Menschen verstehen: sich dieser Frage bewusst zu stellen, immer wieder, ein Leben lang - mit Hilfe und zur Entwicklung unseres individuellen Sinn-(lichen ) Ichs. Dabei gilt: Der Weg ist das Ziel - die Frage nach unserer menschlichen Existenz, nicht die Antwort.

DER SECHSTE Anton Legerer, 1966 in Wien geboren, verheiratet, hat nach der Handelsakademie ein Diplomstudium der Psychologie an der Universität Wien als Magister abgeschlossen. Beruflich sammelte er Erfahrungen im Bankwesen, mit historischen Forschungen und als freier Publizist. Er hat den Verein "Gedenkdienst" mitaufgebaut sowie die "ARCHE - Plattform für interkulturelle Projekte", die das NS-Erbe aufarbeiten und eine Brücke zur heutigen interkulturellen Gesellschaft schlagen will.

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