Niemals die Unwahrheit?

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Wann ist Falschaussage erlaubt? Gibt es Situationen, in denen man nicht nur lügen darf, sondern auch muss? Anmerkungen zu unterschiedlichen Ansätzen moralischer Grundsätze.

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht": Wenn ich entdecke, dass mich jemand bewusst hintergangen hat, um mich hineinzulegen oder "über den Tisch zu ziehen", dann muss ich mich im eigenen Interesse vor ihm hüten. Wenn sich jemand also in seiner Rede oder in seinem Tun als unzuverlässig im moralischen Sinne erwiesen hat, ist das Vertrauen zerstört, weil es sich dabei weder um einen Irrtum, noch um ein Versehen oder um eine Fahrlässigkeit handelt, sondern um eine absichtliche Täuschung.

Aktuelles Beispiel sind die jüngsten Fälschungen von Bilanzen und Wertpapieranalysen. Durch sie verleitet, haben zahlreiche Menschen unwissentlich ihr oftmals sauer abgespartes Geld eingebüßt. Selbst wenn nicht sämtliche Agenten am Kapitalmarkt Betrüger sind, so werden die Aktien von ehrlichen Unternehmen durch die unleugbaren Fakten in den Abwärtssog des Vertrauensschadens mit massiven Folgen für die Wirtschaft hineingezogen. Im Geschäftsleben ist eben Vertrauenswürdigkeit buchstäblich "Geld wert", nämlich Kredit, abgeleitet von credere - glauben! Transparenz und Durchsichtigkeit sind daher unabdingbare Forderungen für ein gedeihliches Miteinander im Kleinen wie im Großen. Austausch und Kommunikation funktionieren allein auf der Grundlage wechselseitigen Vertrauens.

Aus Notwehr

Es kann aber im persönlichen Bereich, im Geschäftsleben oder in der Politik ein korrespondierendes Recht geben, manchmal auch eine Pflicht, eine Intimsphäre oder Geheimnisse zu wahren. Wenn etwa der Vatikan für Juden falsche Ausweispapiere - "Identitäten" - beschafft hatte, um sie vor den Verfolgern des Naziregimes zu retten, handelte es sich um eine gezielte Täuschung in einem Notstand. Verkürzt formuliert: Darf man aus Notwehr lügen? Gemeint ist nicht, ob man eine Notlüge gebrauchen dürfe, um Nachteile von sich oder von anderen - eine "Dienstlüge" - abzuwenden. Notwehr setzt voraus, dass man ungerechterweise physisch oder psychisch ernstlich bedroht wird.

Die "klassische" Ansicht dazu besagt, man dürfe auch in einer Notwehrsituation niemals die Unwahrheit sagen. Das läuft auf einen Wahrheitsrigorismus hinaus. In vergleichbaren Lagen würde Vergleichbares wieder geschehen: lässt sich der Grundsatz "Niemals die Unwahrheit" uneingeschränkt aufrecht halten?

Kein vernünftig denkender Mensch zieht daraus den Schluss, eine gefälschte Steuererklärung oder ein Meineid vor Gericht ließen sich so rechtfertigen. Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit im Verkehr unter Menschen müssen trotz des Vorbehaltes der Notwehrlüge oder des Notstandes unangefochten weitergelten. Diese Theorie kann freilich zu Unklarheiten verleiten, wenn das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat wegen mancherlei Unzulänglichkeiten schwindet und sie daraus fälschlich den Schluss zögen, sie befänden sich in einer Situation wie bei der Notwehr. Nur wenn ein Einzelner oder eine Institution ein schweres Unrecht begehen und dadurch die Vertrauensbasis zerstören, ist eine "Falschrede" nach dieser Ansicht zulässig.

Die Verfechter des "Niemals die Unwahrheit" lassen sich freilich durch das Argument mit der Notwehr nicht überzeugen; es ist auch nicht neu. Einmal argumentieren sie mit der Gefahr eines Dammbruches: dadurch würden der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, gerade auf diesem Wege würde alles Vertrauen in Frage gestellt. Überdies sei der Anspruch der Wahrheit etwas so Gebieterisches, dass er durch keine noch so verständlichen Rücksichten beschnitten werden dürfe. Die Idee der Wahrheit als solche verlange nach absolut und ausnahmslos wahrhafter Rede, denn in der Natur der Sprache liege es, Wahrheit abzubilden und zu vermitteln und nicht Unwahrheit. Es sei also ein eklatanter Missbrauch von Sprache, wenn man absichtlich die Unwahrheit sagt. Im religiösen Kontext lässt sich das durch den Hinweis auf den Teufel als Vater der Lüge (vgl. Joh 8, 44) untermauern: die absichtliche Falschrede sei in sich schlecht. Man kann das psychologisch-anthropologisch entfalten: etwas anderes zu sagen, als man bei sich selbst innerlich als zutreffend weiß, sich zu verstellen, zerrüttet den Menschen, greift seine Identität an.

Leitprinzip Liebe

Eine Ausnahme von der Ausnahme der Notwehrlüge ist das je nach der Situation heilsnotwendige Bekennntnis zu Jesus Christus: "Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen" (Matth 10, 33). Das kann auch für ein Martyrium zutreffen, also für die Zufügung schweren Unrechtes.

Die Wahrheitsmitteilung sollte von der Liebe geleitet sein, denn Liebe setzt Vertrauen voraus und schafft andererseits Vertrauen. Wenn es sich um einen Austausch von Meinungen handelt, muss zustimmendes Kopfnicken keine Unwahrhaftigkeit sein, sondern bedeutet zunächst nur, dass ich die Meinung des anderen als seine Meinung gelten lasse, selbst wenn ich seine Meinung nicht teile, während eine Zustimmung zu zwei mal zwei sei fünf Unsinn ist! Am Krankenbett sollte man einen todkranken Patienten taktvoll mit der Wahrheit über seinen Zustand vertraut machen. Meiner Großmutter sollte ich nicht unbedingt ins Gesicht sagen: "Du hast aber dicke Beine ..."

Der Autor ist em. Prof. für Moraltheologie an der Karl-Franzens-Universität,Graz.

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