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SCHWIERIGKEITEN, HEUTE DIE WAHRHEIT ZU SCHREIBEN

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Als Bertold Brecht 1934 die „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ aufzeichnete, sprach er von einer Wahrheit, die sich gegen die Unwahrheit durchzusetzen hatte, die der Unwahrheit entgegengesetzt war. In Hinsicht auf die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit konnte er sich auf die Gewißheit der Unwahrheit verlassen. Wahrheit war das, was die Unwahrheit negierte und versuchte, sie zu überlisten und zu besiegen. Seine Vorschläge für das Schreiben der Wahrheit empfahlen die Mittel der indirekten Rede, der Satire, der Doppelzüngigkeit. Zeugnisse für das Schreiben der Wahrheit entnahm er der Weltliteratur der Doppelzüngigkeit, einem altägyptischen Papyrus, einem chinesischen Weisen, Lukrez, der Utopie Thomas Moores, Swifts Satiren, Shakespeares „Coriolan“, Voltaires „Jungfrau von Orleans“, Lenin und dem Kriminalroman. Ich zitiere diese Liste der Zitate, um zu zeigen, daß Brecht davon überzeugt war, es gäbe diese Tradition im Schreiben der Wahrheit von Anbeginn der menschlichen Literatur. Eine Tradition, in der der Schriftsteller, der die Wahrheit schreibt, eine Wahrheit meint, die unterdrückt ist, unterdrückt von der Unwahrheit, gegen die der Schriftsteller die Wahrheit durchzusetzen versucht. Eine Tradition, die das Kriterium der Literatur darin sieht, wieweit sie fähig war und ist, in diesem Sinne mit doppeltem Boden zu reden, eine Rede hinter der Rede zu haben, zu reden in der, wie es neuerdings etwas pompös genannt worden ist, Sprache des Palimpsests.

Eine der Schwierigkeiten, die der Schriftsteller des Jahres 1964 beim Schreiben der Wahrheit hat, besteht nun aber, so denke ich, darin, daß er deutlich sieht, wie sehr diese Überzeugung Brechts an die Gewißheit der Unwahrheit, der Unwahrheit unrechtmäßiger Gewalt, der Unterdrückung, des Faschismus, der Diktatur gebunden war. Heute, wo alles gemischt erscheint, läßt sich nicht einfach mehr sagen, daß ich die Wahrheit schreibe, wenn ich die Unwahrheit bekämpfe. Zwar wird auch heute versucht, der Regel Brechts zu folgen, aber die Unwahrheit, gegen die geschrieben wird, erweist sich als eine bloß halbe und zur anderen Hälfte leere literarische Erfindung; und diese bloße Erfindung macht, daß die wahrhaft unwahre Hälfte der Unwahrheit eher gewinnt als verliert. Bundesregierung, Wirtschaftswunder, Ostzonenregime, Ost-West-Konflikt oder wie die Schlagworte, politisch genommen, noch heißen mögen, sie aRe zeigen weder (die Wahrheit noch die Unwahrheit, sondern vorläufige Schilder, die mancherlei Funktionen haben, auf jeden Fall aber verhindern, daß sich der erkennbare Gegensatz von Wahrheit und Unwahrheit herausbildet

Nun bezog sich die Wahrheit von der Brecht redete, auf den Menschen als einem gesellschaftlichen und politischen Menschen (und daß Brecht sich darauf bezog, bedeutet bereits eine ganz andere Art der Vorentscheidung für das Schreiben der Wahrheit). Es gab und gibt aber auch eine Gruppe von Schriftstellern, die die Schwierigkeiten beim Schreiben ddr Wahrheit darin erkennen, die Wahrheit über sich selbst, über seine geheimsten, verwerflichsten Impulse zu sagen. Die Celine, Leiris, Miller, Genet, Burroughs, Sartre und andere wollen, so kann man untersteilen, genauso die Wahrheit sagen wie Brecht, wenn sie von dem sozusagen Allzumenschlichsten reden, das bisher nicht in der öffentlichen Rede zugelassen war; sie wollen die Lüge des Ver- schweigens moralischer, sexueller und anderer Untergründe durchbrechen. Auch ihre Wahrheit ist an eine solche Unwahrheit gebunden, aber sie steht dieser nicht gegenüber, sondern betätigt sich bohrend, anklagend, selbstbezichtigend, entblößend. Ihre Rede ist nicht die der List, sondern die der Selbsterforschung und der Selbstankiage. Auch dafür ließe sich eine Tradition anführen, in der so erlauchte Namen wie Augustin, Dante und Rousseau stehen könnten. Aber ist es noch eine Wahrheit, mit der wir 1964 Schwierigkeiten haben? Hat sich nicht inzwischen ein so weitverbreitetes Netz der Fachsparten ausgebildet, daß wir, ohne etwas für oder gegen die Wahrheit zu tun, alles, was wir an Befremdendem, Unterdrücktem oder gänzlich Unbekanntem in uns finden, darin unterbringen können? Die Selbstanklage scheint nicht länger eine Sache der Wahrheit, sondern eher eine der Mode, des intervertierten Geschmacks zu sein.

Nun gibt es aber (um weiterhin alles auf einige Haupttypen zu vereinfachen) noch eine dritte Schwierigkeit beim Schreiben der Wahrheit, und das ist nicht eine der Erkenntnis, der Einsicht, dessen was zu sagen ist, sondern das ist eine des richtigen Schreibens überhaupt, dessen, wie man die Wörter und Sätze findet, zu sagen, was zu sagen sich einem aufdrängt. Diese Schwierigkeit hat es, soweit sich erkennen läßt, schon immer gegeben und ihre Bewältigung war von alters her das erste Kriterium für das, was geschrieben worden ist. Und da, so scheint mir, ist etwas Neues eingetreten, das auch Brecht und die Selbstentblößer in sich einschließt: das ist der Zweifel, ob überhaupt sagbar ist, was gesagt werden kann. Ein Zweifel, dem die Zuversicht auf den schließlich richtigen sprachlichen Ausdruck der Wahrheit verlorenzugehen droht. Ein Zweifel, der die Grundstruktur der Sprache im Widerspruch zur Erfahrung sieht, die in ihr gesagt werden soll. Ein Zweifel, der die Erfahrung den Möglichkeiten der Sprache entwachsen sieht; der nun kritisch gegen die konventionellen Vorurteile der Sprache gerichtet ist. Ein Zweifel aber auch, der die von der lebendigen Biegsamkeit ihres Instrumentariums verlassene Sprache plötzlich als bloßen Vorrat bloß zitierbarer Formeln zu durchschauen meint.

Dies alles sind Andeutungen. Ich fürchte mich, das muß ich offen sagen, was die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit betrifft, mehr als Andeutungen zu geben. Detailfragen lassen sich leichthin im Detail diskutieren. Aber das Ganze? Denn die Wahrheit, wenn man überhaupt ernstlich noch von ihr reden kann, sollte doch die Wahrheit sein, das was wahr ist, wirklich und wahrhaftig wahr (und an den Beteuerungen, zu denen ich mich gedrängt fühle, erkenne ich, wie schwer es mir bereits fällt, die Reichweite dieser Frage unverwandt im Blick zu behalten, wenn überhaupt es noch der Blick ist und nicht ein viel blinderes, hilfloseres Festhaltenwollen, was sich da betätigt).

Ich vermute, daß man versuchen kann, es zu sagen, und daß das Gesagte das ist, was es noch nicht gibt, eine sprachliche Utopie dessen, was faktisch bereits handgreiflicher ist, als es jede denkbare Utopie sich ausdenken könnte.

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