Wird Gott uns dann noch retten können?

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"Europa. Erzählen“: Unter diesem Motto stand der zum vierten Mal von Land und Diözese veranstaltete Pfingstdialog "Geist & Gegenwart“ auf Schloss Seggau in der Steiermark.

Die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, heißt es allenthalben. Gemeint sind damit gewissermaßen geschlossene Systeme von Weltdeutung und Sinnstiftung wie Religionen oder umfassende politisch-gesellschaftliche Entwürfe. Gleichwohl ist unbestritten, dass uns deren Versatzstücke nach wie vor um die Ohren fliegen und unser Leben von den hohen Diskursen bis in die Niederungen der Tagespolitik prägen.

Wenn es - wie beim steirischen Pfingstdialog "Geist & Gegenwart“ auf Schloss Seggau - um den "alten Kontinent“ Europa geht, mit seiner langen und verschlungenen Geschichte, dann gräbt man besonders tief, um die Wurzelstränge freizulegen: Griechische Philosophie und Demokratie, römisches Recht und Staatswesen sowie das jüdisch-christliche Menschenbild und die daraus resultierende Ethik werden in diesem Zusammenhang meist genannt, in einer Kurzformel auf die Knotenpunkte Athen, Rom, Jerusalem fokussiert. Davon lassen sich wiederum spätere "Erzählungen“ wie Aufklärung und deren Derivate Marxismus/Sozialismus oder Liberalismus herleiten.

Europa als riesige Projektionsfläche

"Europa“ lässt sich aber auch selbst als Erzählung begreifen - was im diesjährigen Generalmotto des Pfingstdialogs, "Europa. Erzählen“, seinen Niederschlag gefunden hat. In dieser europäischen Erzählung haben sich die genannten Stränge zu einer - in historischer Perspektive betrachtet - schier unglaublichen politischen, geistig-kulturellen und ökonomischen Erfolgsstory verdichtet. Auch wenn diese nun vielen an ihr Ende gekommen zu sein scheint, ist "Europa“ noch immer eine riesige Projektionsfläche für Vorstellungen von und Sehnsüchte nach einem "guten Leben“; ein "attraktives Exemplum eines Lebensstandard-Erfolges, an dem die ganze Welt teilhaben möchte“, wie das der Grazer Soziologe Manfred Prisching im aktuellen Begleitband zum Pfingstdialog formuliert hat (siehe Buchtipp unten).

Ist das nicht eine zu optimistische Sicht? Die Schriftstellerin Ruth Klüger plädierte in einer Diskussionsrunde dagegen, für "Europa“ nur die Lichtseiten zu reklamieren. "Auch ein Nazi ist ein guter Europäer“, hielt sie pointiert dem persischstämmigen Autor Navid Kermani entgegen, der "Europa“ (bloß) als Chiffre für Aufklärung, Humanität und Menschenrechte begreifen wollte. Wer von Europa rede, müsse auch von den "Schattenseiten des Abendlandes“ reden, so Klüger.

Auf realpolitisch-heutiger Ebene stieß Landeshauptmann-Stellvertreter Hermann Schützenhöfer ins selbe Horn. Er warnte bei der Eröffnung von "Geist & Gegenwart“ gar vor einem "hochfliegenden Pathos“, das uns "keiner mehr abnimmt“. Neben dem - ganz offensichtlichen - ökonomischen Problem, das Europa habe, diagnostizierte Schützenhöfer ebenso ein politisches (es fehle an entschlossener politischer Führung auf europäischer Ebene) und ein kulturelles Problem: Wir müssten uns gegenüber anderen Kulturen erklären - nicht behaupten - können. Letzteres ist eng mit dem zentralen Anliegen von Diözesanbischof Egon Kapellari verbunden, "die tragenden und nährenden Wurzeln Europas nicht zu vergessen, sondern zu stärken: Europa soll und braucht sich im globalen Horizont nicht aufgeben.“

Um den Zusammenhang von Erinnerung und Zukunft kreiste denn auch der Schlussvortrag des Symposions: "Woran Europa sich erinnern soll“, führte Bischof Adrianus Herman van Luyn, noch für wenige Wochen Bischof von Rotterdam und Vorsitzender der niederländischen Bischofskonferenz sowie Präsident der COMECE (Vereinigung der EU-Bischofskonferenzen), aus. Van Luyn wies auf die Ambivalenz von Erinnerung hin: Sie stifte Identität und inneren Zusammenhalt, tendiere aber auch dazu, die "Schattenseiten“ (Klüger) auszublenden und bestehende Vorurteile gegenüber Anderen zu festigen. "Die Geschichte in Europa betrifft alle Europäer, aber sie betrifft sie unterschiedlich: Diese Geschichte ist keine von allen Europäern gleichermaßen geteilte Geschichte“, so der Bischof.

Die Erinnerung Europas sei bleibend eine "verwundete Erinnerung“ - und ohne das Ausmaß dieser Verwundungen zu ermessen, lasse sich nicht an einer gemeinsamen Zukunft bauen. In diesem Kontext nahm Van Luyn auch Bezug auf den Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Mitbrüder aus dem Jahr 1965, der mit den Worten schließt "Wir verzeihen und wir bitten um Verzeihung“ - und auf die gemeinsame Erklärung der beiden Bischofskonferenzen von 1995, wo eine Wahrheit postuliert wird, "die nichts hinzufügt und nichts weglässt, die nichts verschweigt und nichts aufrechnet“.

Friede und Freiheit gehören zusammen

Sehr deutlich plädierte Bischof Van Luyn auch für die Zusammengehörigkeit von Frieden und Freiheit. Apathie und Interesselosigkeit würden die Demokratie gefährden: "Der allumfassende Versorgungsstaat, der die Eigenverantwortlichkeit der Menschen nicht zulässt, läuft immer Gefahr, totalitär zu werden.“ Eine - auch in katholischen Kreisen - alles andere als selbstverständliche Einsicht.

Die spezifische Aufgabe der christlichen Kirchen sei es, ihre große biblische Geschichte von Freiheit und Rettung weiter zu tradieren. In Anschluss an eine Erzählung von Martin Buber, die von verblassenden Erinnerungen handelt, fragte Van Luyn abschließend: "Was aber wird sein, wenn einmal die Erinnerung nicht nur verblasst, sondern ausgelöscht sein wird und wir nicht einmal mehr Geschichten erzählen können? Wird Gott uns dann noch retten können?“

* Diese Seite erscheint in Kooperation mit dem Land Steiermark

Europa weiter erzählen

Norbert Schreiber, Lojze Wieser (Hg.), Edition Geist & Gegenwart im Wieser Verlag, 285 Seiten

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