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Die Nylonfaser

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Unter den Erfindungen, die während und nach dem letzten Weltkrieg die Welt in Erstaunen versetzten, ragen besonders zwei hervor: die Atombombe und die Nylonerzeugnisse. Während jedoch viele dieter Neuerungen, wie Düsenflugzeuge, V-Waf- fen und Atombomben, nur der Vernichtung von Menschen und Material dienen, verfolgt die Verwendung der Nylonfaser als seltene Ausnahme einen rein produktiven Zweck, indem sie die Herstellung verschiedenster Gehrauchsgegenständ von hervorragender Haltbarkeit und Dauerhaftigkeit ermöglicht und überdies ihre Erzeugung von den Naturprodukten, wie Wolle, Baumwolle und Seide, ganz unabhängig macht. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß die Nylonwaren gerade in der wirtschaftlichen Notzeit der Gegenwart überall in der Welt dem größten Interesse begegnen, daß aber auch die sonderbarsten irrtümlichen Ansichten über ihre Zusammensetzung verbreitet eind.

Wie so manche grundlegende und erfolgreiche Erfindung verdankt auch die der Nylonfaser ihre Entstehung einem glücklichen Zufall. Die Fabriks- und Großhandelsgesellschaft Du Pont (E. I. Du Pont de Nemours and Co., Inc.) beauftragte im Jahre 1928 Dr. Wallace Hume C a- rothers, in ihrem Zentrallaboratorium su Wilmington in Delaware nach einem neuen Plan fundamentale Forschungen zu unternehmen. Dieser unermüdliche und trotz einer Jugend überragende Forscher, der als der eigentliche Erfinder der Nylonfaser anzusprechen ist, wurde am 27. April 1896 geboren und starb am 29. April 1937.

Nachdem er das Angebot der Du-Pont- Gesellsdiaft nach allerdings sehr schwerem Entschlüsse angenommen hatte, da er dadurch die schon begonnene Universitätslaufbahn aufgeben mußte, führte er eine Gruppe gutausgebildeter Chemiker zu neuen grundlegenden chemischen Forschungen, ohne auf ein besonderes praktisches Einzelziel zuzusteuern. Es sollte vor allem nur die grundlegende Kenntnis von chemischen Stoffen und Vorgängen weiterentwickelt und vertieft werden.

Bei dieser regen Tätigkeit kamen ihm die Erfahrungen, die er bisher in reichem Maß gesammelt hatte, sehr zugute. Das erste Gebiet, auf dem er erschöpfende Studien gemacht hatte, war das der Azetylenpolymere und deren Derivate. Mittels Vinylazetylen und Divinylazetylen führte er ein gründliches Studium dieser Substanzen durch. Er entdeckte, daß es möglich ist, Chlorwasserstoff mit Monovinylazetylen zu verbinden. Diese Substanz hat eine ähnliche Struktur wie Isopren, polymerisiert jedoch mehrere hundert Male rascher und führt zu einem Produkt, das allen vorher bekannt gewesenen synthetischen Gummiarten weit überlegen ist. Es war das erste synthetische Material, das die besondere Eigenschaft des Gummis aufwies, eine faserartige Struktur zu entwickeln, wenn es gestreckt wird, und sogleich zum amorphen Zustand zurück zukehren, wenn der Druck, beziehungsweise Zug aufhört. In seiner Widerstandsfähigkeit gegenüber aliphatischen Kohlenwasserstoffen und den meisten chemischen Reagenzien ist es entschieden dem Naturgummi überlegen. Es hat überdies eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber dem künstlichen und dem Sonnenlicht. Carothers’ Arbeit legte den Grund zu deren Weiterentwicklung durch andere Chemiker und Textilingenieure der Du-Pont-Gesellschaft, wodurch schließlich ein handelsfähiges Produkt erzielt wurde, das unter dem Namen Neopren in die Industrie Eingang fand.

Die hervorragendste wissenschaftliche Vollendung bedeutete aber Carothers.

Arbeit über lineare Polymere, wie sie aus einer Reihe von 31 auf dem Gebiete der Polymerisation erarbeiteten Artikeln erscheint.

Er erforschte die Mittel, durch die besonders die der Zellulose und der Seide strukturell ähnlichen Polymere erzeugt werden können, und erzielte durch Synthese eine große Anzahl davon. Diese Stoffe bildeten die ersten vollständig synthetischen Fasern mit einem Grad von Festigkeit, Anordnung und Biegsamkeit, die den Naturfasern vergleichbar waren.

Diese Forschungsarbeiten und die daraus erworbenen Erkenntnisse konnte Carothers bei den von ihm geleiteten grundlegenden Forschungen im Zentrallaboratorium der Du-Pont-Gesellschaft in reichem Maße verwerten. Eine der ersten planmäßig von ihm und seinen Mitarbeitern durchgeführten Untersuchungen war auf das bessere Verständnis des Polymerisationsproblems gerichtet: es galt herauszufinden, wie und warum die kleinen Moleküle, aus denen alle Materie besteht, ich zu „Riesenmolekülen“ verbinden, wie sie in Gummi, Baumwolle und Seide gefunden werden. Aus diesen Forschungsarbeiten gewann man grundlegende Erkenntnisse von großer Bedeutung. Man fand zum Beispiel, daß sich gewisse kleine Moleküle derart verbinden, daß sie kettenähnliche Moleküle von großer Länge bildeten. Dies sind die sogenannten linearen Superpolymere, in denen sich die kleinen Moleküle wie eine Kette von Büroklammern (paper clips) aneinanderreihen.

Zunächst war jedoch diese Entdeckung zum großen Teil nur von rein akademischem Wert, und zwar für Chemiker, die besonders an dem Einzelproblem der Polymerisation interessiert waren. Als man jedoch diese Forschungen ungefähr zwei Jahre hindurch fortsetzte, ereignete sich etwas, was in der Zukunft einen weitreichenden praktischen Wert erlangen sollte: bei dem Versuche, eine aus geschmolzenen Langketten-Superpolymeren gewonnene Substanz von dem Gefäße, in dem sie erzeugt worden war, zu entfernen, bemerkte der mit dieser Arbeit betraute Chemiker, daß das geschmolzene Polymer in der Form einer langen Faser ausgedehnt werden konnte und daß diese Faser auch nach dem Erkalten noch auf ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Länge ausdehnbar ist. Eine ähnliche Beobachtung war bei einer solchen Verbindung vorher noch nie gemacht worden.

Diese im Jahre 1930 durch Zufall geglückte Entdeckung regte zu weiteren, mit großer Spannung betriebenen Forschungen an, denn die so gewonnenen Fasern waren nicht stark, nicht elastisch und wurden überdies im heißen Wasser weich. Doch lag die Vermutung nahe, daß eine verwandte Verbindung solche Fasern hervorbringen würde, denen die in Textilien erwünschten Eigenschaften eignen. Daraufhin stellten sich die folgenden intensiven Forschungen auf das eine Ziel ein, solche festen, elastischen und wasserbeständigen Fasern zu erzeugen, doch traten bei diesen Versuchen ganz bedeutende Schwierigkeiten auf. Es wurden zwar zahlreiche neue Superpolymere synthetisiert, aber jedes Produkt erwies sich hinsichtlich der einen oder ändern wesentlichen Textileigenschaft als mangelhaft. Die Aussicht auf einen Erfolg verdüsterte sich in einem Grade, daß die Forsdiungen in dieser Richtung zu einem Stillstand zu kommen drohten. Glücklicherweise gab man jedoch die Arbeit nicht dauernd und gänzlich auf und schließlich wurde eine verschiedene Abart der Superpolymere von der als Polyamide bekannten Art synthetisiert. Und gerade diese Substanz ergab mittels einer Filtriervorrichtung die erste Faser jener Type, die als Nylon bekannt ist.

Aus dem geschilderten Entwicklungsgang ergibt sich also, daß Nylon aus einem kettenförmigen synthetischen faserbildenden polymerischen Amid mit proteinähnlicher Struktur besteht und die außergewöhnliche Zähigkeit, Festigkeit und besondere Fähigkeit besitzt, in Fasern und verschiedenen Formen, wie Borsten und Flächen, gebildet oder in Fäden gesponnen werden zu können, die viel feiner sind als die aus Seide oder aus Kunstseide.

Das zuerst auf eine ganz rohe Weise erzeugte faserbildende Material erschien als so vielversprechend, daß gesteigerte Anstrengungen unternommen wurden, um die Weiterentwicklung auch zu einem kaufmännischen Erfolg zu führen, weshalb eine große Anzahl Chemiker und Textilingenieure den Auftrag erhielten, den Produktionsprozeß zu verbessern und zu beschleunigen. Nach mehreren Jahren intensivster und sorgfältigster Arbeit entwickelte der ansehnliche Forschenstab eine andere Art Polyamid, die Polymer „66“ genannt wurde und die durch die Reaktion zwischen Hexamethylendiamin und Adipinsäure gewonnen wurde. Es ist interessant, daß trotz den zahlreichen verschiedenen Nylontypen, die in der Folgezeit synthetisiert wurden, die mit „66“ bezeichnete Type eine für Textilzwecke noch immer am allermeisten verwendete Art ist.

Am 27. Oktober 1938 — ungefähr zehn Jahre nach dem Beginn der Erforschung des Polymerisationsproblems — kündigte Du Pont die Entwicklung einer Gruppe neuer synthetischer Polymere an, aus denen Spinnstoffasern gesponnen werden könnten, die an Festigkeit und Elastizität jede vorher bekannte Textilfaser übertreffen. Zunächst wurden gegen Ende des Jahres 1938 Zahnbürsten mit Borsten aus dem Polymer „66“ im gianzen Lande in den Handel gebracht. Gegen Ende des Jahres 1939 wurde die erste Garnspinnmaschine in Delaware ins Werk gesetzt.

Das Verfahren der Herstellung von Nylongarn ist so kompliziert, daß deren Darlegung den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, doch sei nur darauf hingewiesen, daß es in drei verschiedenen Formen erzeugt wird: das sogenannte Nylon- Monofilament-Garn, das „Ununterbrochene (Continuous) Multifilament - Nylon - Garn“ und „Nylon-Staple-Fiber“ aus kurzsdmürigen Nylonfasern. Diese Mannigfaltigkeit macht es möglich, seine Festigkeit, Dauerhaftigkeit und alle anderen Nyloneigenschaften für die verschiedenen Gewebearten nutzbar zu machen. Nylon läßt sich aber auch mit anderen Fasern — Wolle, Baumwolle, Viskose und Azetat — mischen, wodurch deren Verwendbarkeit ganz bedeutend gesteigert wird. So gibt es für die Verwendungen des Nylon für Gewebe sowie für technische Artikel schier keine Grenzen. Nylongewebe zeichnen sich außer durch Dauerhaftigkeit und Festigkeit vor allem noch aus: durch besondere Glätte, die das Anhaften des Schmutzes erschwert; durch leichte Waschbarkeit; rasches Trocknen, da sie äußerst wenig Feuchtigkeit absorbieren; durch Knitterfreiheit und durch die Möglichkeit der Verarbeitung für wärmende Winter- und kühlende Sommerbekleidung, je nach der Fasermischung. Nylon wird aber auch in Flocken- und Pulverform hergestellt und findet dank seines besonders hohen Schmelzpunktes als Isolier- und Plastikmaterial reichliche Verwendung in der Erzeugung von Kämmen, Schüsseln, Bechern, Umschalterunterlagen usw., wozu es sich wegen seiner Zähigkeit, Biegsamkeit und außergewöhnlichen Widerstandskraft gegen große Hitze hervorragend eignet. Schließlich sei noch aus den übrigen zahlreichen Verwendungsmöglichkeiten des Nylon die an Stelle von Catgut in der Chirurgie herausgegriffen.

Jedenfalls lassen jedoch die Nylonforschungen, die von der Du-Pont-Gesellschaft unentwegt weiter fortgesetzt und gefördert werden, die berechtigte Erwartung zu, daß ihre Fabrikate in der Zukunft an praktischem Wert und Wirtschaftlichkeit noch gewinnen werden.

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