Das Geheimnis der Lotosblume

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In den hochkomplexen Gebilden der Natur findet sich der Schlüssel für so manches Patent. Heute läuft die Suche nach bionischen Lösungen auf Hochtouren.

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In den hochkomplexen Gebilden der Natur findet sich der Schlüssel für so manches Patent. Heute läuft die Suche nach bionischen Lösungen auf Hochtouren.

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Leonardo da Vinci, der großartige Maler, Bildhauer, Philosoph und Universalgelehrte, beobachtete die Natur sehr genau, um sie besser darstellen zu können. Daraus entwickelte er viele technische Konstruktionen. Leonardo gilt deshalb als der erste Bioniker der Geschichte. Bionik als Wissenschaftsdisziplin befasst sich "systematisch mit der technischen Umsetzung und Anwendung von Konstruktionen, Verfahren und Entwicklungsprinzipien biologischer Systeme", lautet die Definition des deutschen Zoologen und Biologen Werner Nachtigall, der als Begründer der Disziplin in Deutschland gilt. "Bio-nik" beobachtet also die Biologie - und überträgt ihre Phänomene auf die Technik.

Genau das hatte Leonardo da Vinci gemacht. Er studierte zum Beispiel den Vogelflug und notierte seine Beobachtungen und Skizzen um 1505 in seinem "Codice sul volo degli uccelli" (Kodex über den Vogelflug). Darin wird zum ersten Mal die Formveränderung des Vogelflügels beschrieben, dessen Federn beim Abwärtsschlag eine geschlossene Fläche bilden und sich bei der Aufwärtsbewegung öffnen. Aus den Beobachtungen entwickelte Leonardo Skizzen und Pläne zum Bau von Fluggeräten und konstruierte und testete einige davon auch. Fliegen konnte man damit allerdings nicht, weil die Muskulatur eines Menschen im Verhältnis zu seinem Körpergewicht nicht kräftig genug ist, um den nötigen Auftrieb zu erzeugen. Die Sache mit dem Fliegen gelang erst, als Auftrieb und Vortrieb entkoppelt wurden.

Der Weg zum Klettverschluss

Vielleicht weniger spektakulär, aber genauso wichtig sind viele andere technische Entwicklungen, die aufgrund des Studiums der Natur möglich wurden. Der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral zum Beispiel ging gerne mit seinen Hunden spazieren und ärgerte sich vermutlich über die Kletten, die im Fell der Tiere hängen blieben und sich schwer entfernen ließen. Eines Tages legte er eine Klette unter das Mikroskop und stellte fest, dass die Früchte elastische Häkchen tragen. De Mestral entwickelte daraus den Klettverschluss, den er 1951 zum Patent anmeldete.

Ein berühmtes Beispiel für Bionik ist auch der Lotus-Effekt. Die Lotosblume ist in weiten Teilen Asiens ein Sinnbild für Reinheit, weil sie scheinbar nie schmutzig wird. Wie bei der Kapuzinerkresse oder dem Kohl und einigen anderen Pflanzen bildet Wasser auf der Oberfläche ihrer Blätter Perlen, die einfach ablaufen. Erst in den 1970er-Jahren entdeckte der deutsche Botaniker und Bioniker Wilhelm Barthlott mit Hilfe der Raster-Elektronenmikroskopie, warum das Wasser abläuft: Die Haut der Blätter bildet winzige Papillen, also kleine Berge, auf denen ein Wachs liegt. Die Struktur und das Wachs sorgen dafür, dass das Wasser nicht an der Oberfläche anhaften kann, sondern abläuft und dabei Schmutzpartikel mitnimmt. Diese Erkenntnis führte ab Mitte der 1990er-Jahre zur Entwicklung von selbstreinigenden Oberflächen für Fassadenfarben, Markisen, Fensterscheiben, Kunststoffen, Textilien und vielem mehr.

Ein drittes markantes Beispiel ist die extrem reißfeste Seide von Spinnen. Spinnenseide ist sehr dünn, belastbarer als Stahl und elastischer als Gummi. Deshalb kann die Spinne damit nicht nur Beutetiere fangen, sondern sich auch am eigenen Faden abseilen oder durch die Luft fliegen. Kein Wunder also, dass sich Generationen von Forscherinnen und Forschern damit beschäftigt haben, was die Spinnenseide so speziell macht. Es liegt offenbar an der richtigen Mischung der Proteine, aus denen die Seide besteht, doch so ganz klar ist das noch nicht. Trotzdem ist es Thomas Scheibel von der TU München, der heute den Lehrstuhl Biomaterialien an der Universität Bayreuth inne hat, gelungen, Spinnenseide-Proteine über gentechnisch veränderte Bakterien herzustellen und über eine künstliche Spinnendrüse zu spinnen. Nun soll eine Demonstrationsanlage gebaut werden, um die Spinnenseide im Industriemaßstab zu produzieren. Die Anwendungsmöglichkeiten für dieses Material sind nahezu unendlich -von Fallschirmseilen bis zur Architektur. Alle diese Beispiele zeigen, worauf es bei der Bionik ankommt: Auf eine gute Zusammenarbeit zwischen Biologen und Ingenieuren.

Technischer Pflanzenhalm

Zuerst brauche es die Erkenntnis des Biologen, dann die Abstraktion, und dann die Frage, wie man darauf aufbauend eine technische Lösung finden kann, sagt Thomas Speck, der die Plant Biomechanics Group an der Universität Freiburg leitet (siehe auch Interview S. 6). In der Bionik werden keine identischen Kopien der Natur erstellt, sondern Erkenntnisse aus der Natur über mehrere Abstraktions-und Modifikationsprozesse kreativ in die Technik umgesetzt. Das dauert oft viele Jahre. Bionik soll und kann die Ingenieurswissenschaften demnach nicht ersetzen. Besonders wichtig aber ist es, eine gemeinsame Sprache für die unterschiedlichen Disziplinen zu finden.

Ein erfolgreiches Beispiel aus den Forschungsarbeiten der Plant Biomechanics Group ist der technische Nachbau besonders leichter und gleichzeitig stabiler Pflanzenhalme wie dem Pfahlrohr, Bambus oder Schachtelhalm. Der Schachtelhalm ist das bisher beste bekannte Sandwich-Konstrukt. Im Querschnitt der Pflanze sieht man, warum: Der Halm ist innen hohl, hat eine etwas dickere Wand und in dieser Wand befinden sich Hohlräume in Wuchsrichtung. Gemeinsam mit dem Institut für Textil-und Verfahrenstechnik in Denkendorf ist es gelungen, einen technischen Pflanzenhalm nach diesem Vorbild zu entwickeln, der eine gute Dämpfung und eine hohe Steifigkeit hat und dessen mechanische Eigenschaften variierbar sind. Er wird aus Glasfasern geflochten. Durch die Kanäle in der Wand kann man zum Beispiel Hydraulikleitungen durchführen, was für Flugzeughersteller besonders interessant ist. Auch im Fahrzeugbau, in der Medizintechnik und sogar für Sportartikel wie etwa Schi ist die Entwicklung von Bedeutung.

Selbstheilende Membran

Die Natur hat im Grunde nur eine sehr beschränkte Anzahl von Rohstoffen zur Verfügung, trotzdem hat sie daraus eine unendliche Zahl an komplexen Strukturen und Mechanismen entwickelt, mit denen je nach Bedarf und oft auch kombiniert Stabilität, Funktionalität, Kraft und Flexibilität erreicht werden können. Bei einigen Lösungen kommt es einfach nur auf die Form an, wie zum Beispiel bei den Saugnäpfen an den Vorderbeinen des Gelbrandkäfers, die exakt den Saugnäpfen entsprechen, die der Mensch entwickelt hat. Interessanterweise ist diese Erfindung gelungen, bevor das Vorbild aus der Natur bekannt war.

Oft verwendet die Natur aber Verbundmaterialien, wodurch aus wenigen Elementen komplexe Aufbauten möglich sind. Häufig bestehen Strukturen auch aus mehreren Teilen -wie zum Beispiel Fasern, Schuppen, Platten oder Schichten, zwischen denen ein anderes Material für die Verbindung, aber auch für die Flexibilität oder Stoßdämpfung sorgt. Man denke nur an unsere Knochen, die aus fein verästeltem Gewebe für die nötige Festigkeit bei geringem Gewicht bestehen und an den Gelenken mit elastischem Knorpelgewebe überzogen sind. In diese Richtung forscht die Bionik heutzutage verstärkt.

Der Unterschied zu technischen Lösungen ist, dass biologische Strukturen stets wachsen können müssen. Das erfordert eine Anpassung in der Dimension, ermöglicht aber auch, auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Eine weitere Besonderheit biologischer Konstruktionen ist, dass sie oft selbstheilend sind oder auf Beschädigungen reagieren können. Wie diese Eigenschaften biologischer Materialien und Konstruktionen technisch nachgebildet werden können, ist noch eine große Aufgabe für die Bioniker. Erste Erfolge bei der Entwicklung selbstreparierender Materialien gibt es aber bereits. So haben deutsche Forscher zuletzt eine Membran entwickelt, die an der Innenseite einen PU-Schaum enthält: Dieser kann ein Loch in der Membran in Sekundenbruchteilen verschließen.

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