Der Weg allen Papiers

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... führt für die Zeitungsbände der Österreichischen Nationalbibliothek in die chemische Reinigung.

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... führt für die Zeitungsbände der Österreichischen Nationalbibliothek in die chemische Reinigung.

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Der Zeitungsjahrgang ist bereits aus seiner Einbanddecke herausgelöst. Nun taucht ihn der Restaurator in eine Flüssigkeit. Er weicht das große, dicke, kostbare Paket Papier tüchtig ein. Den Zuschauer packt der Schreck. Das soll gut ausgehen?

Nach wenigen Stunden wird das durchnäßte Bündel schockgefroren. Nach mehreren Tagen in der Gefriertrockungsanlage wird der Zeitungsblock wieder in die Einbanddecke "eingehängt". Für den Laien erstaunlich: Die Blätter sind nicht miteinander verklebt. Vor der Behandlung befand sich der Band im langsamen, aber sicheren Zerfall. Nun wird ihm eine weitere Lebenserwartung von mehreren Jahrhunderten prognostiziert. Freilich nur, wenn er nicht allzu intensiv benutzt wird.

Voll Schmerz stellen die Historiker fest, daß die kostbaren Archivmaterialien, auf die sich Suetonius beim Schreiben seiner Biographien der römischen Kaiser noch stützen konnte, längst verloren sind. Wie herrlich weit haben wir es dagegen gebracht. Das zwanzigste Jahrhundert bewahrt jedes Futzelchen Papier auf, das irgendwann einmal von historischem Interesse sein könnte. Bei näherem Zusehen schaut es aber anders aus.

Zerstörende Säure Archivalien schwinden zu allen Zeiten dahin. Sie werden gezielt vernichtet, verschlampt, gestohlen, verschimmeln oder zerfallen einfach, denn Papier lebt nicht ewig. Nicht einmal das aus Eselshaut hergestellte Pergament hält ewig. Gutes Papier hatte einst eine Lebenserwartung von Jahrhunderten. Seit der Bedarf stieg und nicht mehr genug Textilabfälle für das hochwertige Lumpenpapier anfielen, wurde ein wachsender Teil des Papiers aus zerkleinertem Holz hergestellt. Vor allem das Zeitungspapier. Dieses Papier ist säurehältig und wird von der Säure langsam zerfressen.

Die Aufgabe der Bibliothekare ist dreistufig, erklärte der stellvertretende Generaldirektor der Österreichischen Nationalbibliothek, Helmut Lang, der Furche. Zunächst sind die Bücher, Zeitungen und Zeitschriften materiell zu erhalten, es gilt also primär, den Zerfall des bedruckten Papiers hintanzuhalten. Dazu kommt aber die Bewahrung der Inhalte über die Lebensdauer des Papiers hinaus - dies geschieht zur Zeit hauptsächlich auf Mikrofilmen, die rund hundert Jahre halten und immer wieder umkopiert werden können. Schließlich müssen die Werke aber auch laufend benützt werden können. Am größten sind die Probleme bei den Zeitungen, Zeitschriften, aber auch Plakaten.

Zu den Trägern der wichtigsten historischen Informationen zählt ausgerechnet das nur für den nächsten Tag bedruckte Papier: Die Zeitung. In den alten Jahrgängen wird uns die Geschichte in statu nascendi überliefert, so, wie sie die Zeitgenossen erlebten. Aber da Zeitungen billig und sowieso nur für den Tag bestimmt sind, ist Zeitungspapier auch das minderwertigste. Am schlechtesten war es in Nachkriegszeiten, die aber wegen der in diesen Phasen erfolgten Weichenstellungen gerade besonders interessant sind.

Nur ein konservatorisches Problem? Die "Reichspost", eine der von Studenten meistbenützten Quellen zur österreichischen Geschichte von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg, hatte eine Spätabendausgabe namens "Wiener Stimmen". Diese ist aus verschiedenen Gründen wichtig, zum Beispiel wegen ihrer antisemitischen Karikaturen bekannter Zeichner wie Theo Zasche oder Fritz Schönpflug. Sucht man bestimmte Ausgaben, kann man aber nur staunen: Pro Jahr fehlen bis zu 50 Nummern. Nicht etwa herausgetrennt, sondern schon beim Binden nicht mehr vorhanden. Dieses Problem besteht selbstverständlich nicht nur bei den "Wiener Stimmen". Entweder wurde die Ablieferung der Pflichtstücke verschlampt, oder eine Hilfskraft nahm sie sich zum Lesen heim und vergaß sie dort. Was wissen wir noch über die Verhältnisse in den Bibliotheken in den zwanziger Jahren.

Nun wurde jede Zeitung von verschiedenen Bibliotheken gesammelt. Es läge also nahe, die am besten erhaltenen, vollständigsten Jahrgänge jeder Zeitung in einer zentralen Zeitungsbibliothek zu sammeln und alles dann immer noch Fehlende nach Möglichkeit durch Kopien zu ergänzen. Das Projekt wurde in den siebziger Jahren an Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg herangetragen und war bereits spruchreif. Architekt Jaksch hatte die Pläne für den Umbau des ehemaligen Semperschen Kulissendepots der Staatstheater hinter dem Theater an der Wien bereits fertiggestellt, als Ministerin Firnberg, und damit auch das Projekt eines zentralen Zeitungsarchivs mit angeschlossenem Zeitungs-Cafe, einer Regierungsumbildung zum Opfer fiel. Das Semper-Depot, ein Architekturjuwel, wurde trotzdem vor dem Abbruch gerettet. Das alternative Projekt eines Ateliergebäudes für die Kunststudenten war wohl nicht weniger sinnvoll. Das zentrale Zeitungsarchiv geriet jedoch in Vergessenheit.

Ob die alten Jahrgänge aber nun vollständig sind oder nicht, hier oder dort gelagert werden, mit ihrem scheinbar unausweichlichen Zerfall war bis vor kurzem jede Bibliothek konfrontiert. In den USA wurde versucht, das Papier mit organischen Lösungsmitteln von den Holzsäuren zu befreien. Das Verfahren erwies sich nicht nur infolge der Explosivgefahr - eine Anlage flog in die Luft - als untauglich. Gelöst wurde das weltweit virulente Problem in Wien.

Im Jahre 1987 wurde Konrad Henkel, Chef der gleichnamigen Unternehmensgruppe, in New York durch eine Zeitungsmeldung auf die finanziellen Probleme der österreichischen Museen aufmerksam und bot seine Hilfe an. Zustande kam dann aber ein Projekt, bei dem der Chemieriese Henkel Know-how und Ressourcen einbringen konnte: Die Entwicklung eines wirtschaftlichen, normierbaren, reproduzierbaren, für die Umwelt unschädlichen Verfahrens zur Massenentsäuerung von Papier.

Papier besteht aus verfilzten Zellulosefasern. Deren Länge ist einer der Faktoren der Haltbarkeit. Die Fasern des aus Holz hergestellten Zeitungspapiers sind besonders kurz und werden durch Verleimung verfestigt. Die seit dem 19. Jahrhundert übliche Verleimung ist aber verantwortlich für die Freisetzung von Schwefelsäure, welche die schon kurzen Zellulosefasern angreift und weiter verkürzt. Aber auch das im Holz enthaltene Lignin trägt nicht nur zur Vergilbung, sondern auch zum Brüchigwerden des alten Zeitungspapiers bei.

Bei der bereits in den siebziger Jahren entwickelten "Wiener Methode" wurde das Papier durch Tränken in einer wässerigen Lösung von Kalziumhydroxid und Methylzellulose in einem Arbeitsgang entsäuert, gefestigt und gereinigt. Vor allem die Viskosität (Zähigkeit) der Lösung erschwerte aber das Eindringen ins Papier. Dadurch ließ die Neutralisierung der Säure zur Mitte der Papierstapel hin zu wünschen übrig. Gemeinsam mit Henkel entstand sodann in aufwendigen Versuchsreihen die "Verbesserte Wiener Methode", die vor allem auf der Verwendung eines Borat-Puffers statt des Kalziumhydroxid-Puffers beruht. Versuche, die Durchdringung der Buchblöcke mit Tensiden zu verbessern, endeten wiederum mit einer Enttäuschung. Erst die Tränkung im Vakuum führte zu einem besseren Ergebnis.

In einem Arbeitsgang werden jeweils 10 bis 15 Buchblöcke in der Vakuumkammer zwei Stunden lang durchnäßt, kommen anschließend zum Abtropfen in ein Regal und werden schließlich bei minus 30 Grad Celsius drei bis vier Stunden lang schockgefroren und anschließend gefriergetrocknet. Der Kälteschock verhindert die Bildung großer Eiskristalle, die das Papier beschädigen könnten, sowie das Verblocken der Seiten. Nach einer Woche im Gefriertrockenschrank können die Bände vom Buchbinder sofort wieder in die inzwischen restaurierten Einbände "eingehängt" werden. Der nächste Schritt zu einem weiter verbesserten Verfahren könnte - dies ist ein Wunschtraum der Restauratoren - eine Methode zum Ziel haben, bei der die Buchdeckel nicht entfernt werden müssen.

Samt Deckel ins Bad?

Zerfallende Zeitungen, für Jahrhunderte gerettet: Davon kann leider nur die Rede sein, wenn man nicht ständig in ihnen blättert. Die Mikroverfilmung kostet um einiges mehr als die Entsäuerung. Ob Mikroverfilmung im Zeitalter der CD-ROM überhaupt noch sinnvoll sei, ist derzeit eine große Streitfrage. Die CD-ROM ermöglicht die Speicherung feinkörniger Fotografien mit hoher optischer Auflösung auf kleinstem Raum. Gegen die CD-ROM wird zweierlei ins Treffen geführt: Die technische Entwicklung, die dazu führen könnte, daß heute gängige Aufzeichnungen in 20 Jahren nicht mehr gelesen werden können - und die geringe Haltbarkeit. Manche nur wenige Jahre alte Plastikscheiben weisen bereits erhebliche Datenverluste auf. Andererseits ist das laufende Umkopieren billig.

Große Bibliotheken hinken aber auf alle Fälle der Zeit hinterher, wenn sie heutige Zeitungen in ihrer papierenen Form ankaufen - nicht aber auch die von immer mehr Zeitungen angebotenen CD-ROMs kompletter Jahrgänge mit ihren komfortablen Suchmöglichkeiten. Werden in zehn Jahren in der Österreichischen Nationalbibliothek die Studenten in den alten Bänden der "Frankfurter Allgemeinen", der "Neuen Zürcher", der "Zeit" oder des "Spiegel" Blatt für Blatt umwenden, statt sich das Benötigte blitzschnell auf den Bildschirm zu holen? Diesem archaischen Zustand sollte denn doch vorgebeugt werden.

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