"Geflickt" und digitalisiert

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Im angejahrten Vortragssaal unter dem Dach der ergrauten Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden ist es unsommerlich kühl. Das machen die Klimaanlagen. Denn die paar Schaustücke in den Vitrinen möchten es so: Es sind originale Bachhandschriften. Noch vor kurzer Zeit schienen sie unrettbar verloren zu gehen, die Archivare meinten ihnen beim Dahinscheiden zusehen zu müssen, jetzt sind die ersten nach erfolgreicher Behandlung wieder zurück - haltbar für die nächsten 150 Jahre. Möglich macht dies die - zugegebenermaßen aufwendige und kostspielige Methode des Papierspaltens. Blatt für Blatt wird einzeln behandelt. Gerade rechtzeitig zum 250. Todestag des Meisters am 28. Juli wurden die ersten Blätter fertig. 80 Prozent der Handschriften Johann Sebastian Bachs sind in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt, auch wenn dieser mit Berlin gar nicht viel zu tun hatte: Die "Brandenburgischen Konzerte", das "Weihnachtsoratorium", "Die Kunst der Fuge" und das "Wohltemperierte Klavier" etwa. Das liegt an der Vorliebe des preußischen Herrscherhauses für seine Barockkompositionen, Anna Amalia mochte die Musik des Thomaskantors aus Leipzig. 8.000 Blatt umfasst die Sammlung in der deutschen Hauptstadt, aber fast 70 Prozent der Autographen sind durch Tintenfraß geschädigt. Die 1.486 am stärksten betroffenen Blätter, also rund ein Fünftel, werden derzeit in Leipzig restauriert. Dies erfolgt nach der Methode des Papierspaltens, bei der Buchseiten der Länge nach geteilt werden. Ein Unternehmen in Leipzig, das Zentrum für Bucherhaltung (ZfB), hat sich darauf spezialisiert und mit dem maschinellen Papierspalten eine riesige Marktlücke erschlossen. Ein expandierender Ostbetrieb mit weltweit einzigartigem Know-how. Der Leiter des ZfB, Wolfgang Wächter, war zu DDR-Zeiten Diplomrestaurator der deutschen Bücherei in Leipzig. 11,5 Millionen Bücher, die gesamte deutsche Literatur seit 1913, wird dort aufbewahrt. Doch viele Bände sind, wie überall auf der Welt, gefährdet. In ganz Deutschland können 60 Millionen Bücher nicht mehr genutzt werden. Das liegt daran, dass früher Papier aus Lumpen hergestellt wurde, das sogenannte Hadernpapier. Setzten ihm keine äußeren Einflüsse zu, war es ewig haltbar. Mit der explosionsartigen Vermehrung der Druckerzeugnisse ab Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden Lumpen Mangelware, Holz wurde der Papiererzeugung beigefügt. Doch Lignin, Leim und Luftsauerstoff ergeben eine Säure, die das Papier zersetzen. Es vergilbt und wird brüchig. All das nach 1850 hergestellte Papier gilt als gefährdet. Die Erfindung der Papierspaltung versprach Hilfe, war aber lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein: Dabei werden die einzelnen Blätter beidseitig auf Trägerpapier geklebt, dieses wird dann vorsichtig auseinandergerissen: Die zwei Seiten kleben am Trägerpapier, das Blatt ist gespalten. Weil die Zellulosebindungen schon stark abgebaut sind, lässt sich das Papier beim Auseinanderziehen der Trägerpapiere im Querschnitt teilen. Ein hauchdünnes Kernpapier wird eingefügt, das Blatt wieder zusammengeklebt, die zwei Trägerpapiere werden entfernt. Sprödes und brüchiges Papier wird auf diese Weise von innen heraus stabilisiert.

30 Jahre lang hat Wolfgang Wächter geforscht, das Verfahren zu automatisieren. Nach der Wende in Ostdeutschland war auch Geld dafür vorhanden. Um 63 Millionen Schilling wurde die weltweit erste Papierspaltmaschine nach Plänen Wächters entwickelt. Sie schafft die Behandlung von bis zu 4.000 Blatt pro Tag, händisch gehen sich gerade 200 Blatt am Tag aus. Auch die Kosten sind günstiger: Handgespalten kommt das Blatt auf mehr als 100 Schilling, die Maschine macht es um 35 Schilling pro Blatt. Allein durch die deutsche Bücherei war aber die Papierspaltmaschine, die vor drei Jahren in Betrieb ging, nicht ausgelastet. Ihre Arbeit wurde auch anderen Interessenten angeboten, seither reißt der Zustrom nicht ab. Nun soll expandiert werden: Die Größe der für eine Behandlung geeigneten Blätter wird verdreifacht, Delegationen aus den USA, aus Südafrika und China sind schon eigens nach Leipzig gereist. Ende des Jahres wird die erste Filiale in Boston (USA) eröffnet.

Der Markt ist groß, die Zeit drängt, denn die Bestände in unzähligen Museen, Sammlungen und Bibliotheken verfallen: So wurden etwa sämtliche Doktorarbeiten der DDR in Kopie abgelegt und sind heute nicht mehr lesbar. Paperbacks, Thermopapier aus Faxgeräten und Zeitungen gelten als besonders gefährdet. Das Verfahren des automatisierten Papierspaltens dauert etwa eine Woche: Erst werden die einzelnen Blätter eines Buches entnommen und nummeriert. Dann tauchen sie in ein Reinigungsbad ein. Säure und Schmutz werden ausgewaschen, Tintenfraß und Schimmelbildung gebremst. Dann werden die Blätter mit Gelatineleim auf die Trägerpapiere (15 Tonnen sind heuer dafür nötig) aufgeklebt und auf das Förderband der Maschine gelegt. Sie führt die Blätter durch Walzen und zieht sie der Länge nach auseinander. Das Kernpapier wird dazwischengeschoben, wieder verschwinden die Blätter auf ihrem Förderband zwischen Walzen. Es folgt Trocknung und Ablösung vom Trägerpapier, sowie die Einordnung in das Buch. Dieses wird trotz der neu eingefügten Kernpapiere nicht dicker. 150 Jahre soll das Buch nun vor jedem Alterungsprozess geschützt sein, versichert das Leipziger Zentrum für Bucherhaltung. Die Bachnoten werden noch händisch gespalten. Ihr Format ist größer als es die Maschine zulässt. Auch sind die Noten nicht so sehr vom Zerfall bedroht, weil auf Lumpenpapier geschrieben, als vielmehr vom Tintenfraß. Deshalb müssen die Blätter zuvor gründlich entsäuert werden. Dort wo Tinte Löcher in das Papier gefressen hat, wird nun in Feinarbeit Zellulose aufgebracht, die sich bei der Behandlung mit dem Notenpapier verbindet, die Blätter werden gleichsam geflickt.

Ende 2002 sollen alle Noten-Handschriften restauriert sein, meint Antonius Jammers, der Generaldirektor der Berliner Staatsbibliothek. Rund zwei Milliarden Schilling seien nötig, um den gesamten gefährdeten Bestand der Bibliothek zu retten, mit der finanziellen Ausstattung dafür würde man aber 100 Jahre benötigen, sagt Jammers. Zumindest für die Bachnoten besteht allerdings berechtigte Hoffnung, die erforderlichen 18 Millionen Schilling in nicht ganz einem Jahr aufzutreiben. Der "Verein der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e. V." hat ein Bach-Patronat ins Leben gerufen: Mittels Spende können einzelne Werke restauriert werden. Mit 7.000 Schilling für eine einfache Bachkantate ist man dabei. Die Restaurierung der Johannes-Passion kommt allerdings bereits auf 3,5 Millionen. Seit vorigem November sammelt der Verein. 1,5 Millionen kommen von privaten Spendern, von den Behörden 3,5 Millionen, Sponsor-Zusagen gibt es für einen Gesamtbetrag von 2,5 Millionen.

IBM-Deutschland ist ein prominenter Sponsor. Der Computerkonzern hat die Patenschaft über die h-Moll-Messe angenommen, einen besonders schweren Fall von Verfall. Im Sanctus waren münzengroße Löcher. Doch IBM hat nicht nur gesponsert: Rechtzeitig zum 250. Todestag des Barockkomponisten wurde das Projekt "Bach digital" gestartet. Bach ist nun im Internet, wie es sich für die Überlegungen eines Computerriesen geziemt.

Aber nicht nur die restaurierten Originalhandschriften kann nun der interessierte Laie ebenso wie der Musikwissenschaftler sich unter www.bachdigital.org auf den Bildschirm rufen, ohne nach Dresden, Berlin oder London fahren zu müssen, wo sich die Handschriften befinden: Das gesamte Werk soll virtuell auf einer Seite zusammengeführt werden - in einer Qualität, die ein wissenschaftliches Arbeiten an den gespeicherten Objekten zulässt, wie das Unternehmen stolz anmerkt. Gleichzeitig gab es am 28. Juli eine Premiere: An diesem Tag feierte Leipzig 24 Stunden lang seinen Komponisten mit Aufführungen seiner Werke. 40 Fernsehanstalten übertrugen in alle Welt. Die Aufführung der h-Moll-Messe durch den Thomanerchor in der Thomaskirche konnte man sowohl live auf dem Fernsehschirm mitverfolgen, als auch auf der synchron im Internet eingespielten Partitur. IBM will damit nach eigenen Aussagen in erster Linie der Gesellschaft etwas zurückgeben, sich als Kulturmäzen darstellen. Für solche Projekte, eine virtuelle Gesamtausgabe der Werke eines Künstlers zusammenzustellen, benötige es eines Unternehmens von solch weltweiter Größe und solcher Kontinuität, fügen die Manager hinzu. Gleichzeitig will IBM aber auch zeigen, was technisch möglich ist, und wie die Zukunft aussehen könnte, die Welt, auch in der Kultur, sich verändern wird. Zehn Prozent der Bachwerke sind bereits digitalisiert, es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis sein gesamtes Schaffen komplett im Internet abrufbar ist, vermutet Volker Susok, Leiter des Digitalisierungsprojektes. IBM verweist auf die eigene Erfahrung, das Unternehmen digitalisierte die Vatikan-Bibliothek, die Eremitage in Sankt Petersburg und die im Wiederaufbau befindliche Frauenkirche in Dresden. Der zentrale Server für "Bach digital" steht in der Universität Leipzig. "Wir kommen in einen Bereich der Information, in dem wir noch nie waren, den Tera-Bit-Bereich", sagt Christoph Kähler, Prorektor für Lehre und Studium der Universität. Künftig würden diese starken Netze gebraucht, die Information werde auch in der Hochschularbeit weiter zunehmen. Eigentümer an den Schriften bleiben weiterhin die Institute, sie sind auf den Internet-Handschriften mit eigenen digitalisierten Wasserzeichen vermerkt. Schon jetzt können auf der Bach-Seite Musikstücke angehört werden, die auf Instrumenten der Instrumentensammlung der Uni Leipzig gespielt werden. Künftig sollen sich auch ausgewählte Schallplatteninterpretationen, CDs und Videos von Bach-Aufführungen dazugesellen. Außerdem ist geplant, umfangreiche Informationen zu den Handschriften sowie den Musiker und seine Zeit generell auf die Seite zu stellen. Mehrere Millionen D-Mark hat sich IBM die Umsetzung dieser Idee kosten lassen, mehr ist über die Kosten nicht zu erfahren, "um nicht Begehrlichkeiten zu wecken", wie es heißt.

Auch über Projekte mit anderen Komponisten möchte IBM noch nicht viel sagen. Mozart wäre allerdings einer der nächsten Kandidaten. Von ihm wäre aber mehr Material zu verarbeiten, und es ist noch weiter über europäische Städte verstreut als dies bei Bach der Fall ist.

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