Schmetterling Flügel fragil verletzlich - © Foto: iStock/PanuRuangjan

Vulnerabilität: Schön zerbrechlich

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Verletzlichkeit gilt heute oft als Schwäche, die es durch Fortschritt zu überwinden gilt. Der Arzt und Philosoph Giovanni Maio zeigt, warum man sich von dieser Vorstellung lösen sollte.

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Verletzlichkeit gilt heute oft als Schwäche, die es durch Fortschritt zu überwinden gilt. Der Arzt und Philosoph Giovanni Maio zeigt, warum man sich von dieser Vorstellung lösen sollte.

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Wer einem buddhistischen Vortrag in einem thailändischen Dschungelkloster lauscht, bekommt es gelegentlich mit folgender Begrüßung zu tun: „Herzlich willkommen, Brüder und Schwestern in Alter, Krankheit und Tod!“ Das ist gewöhnungsbedürftig. Was die Mönche oder Nonnen damit zum Ausdruck bringen wollen, ist jedoch eine existenzielle Botschaft, die man nicht oft genug hören kann, weil sie so gern verdrängt wird: Erstens sitzen wir alle im selben Boot, und zweitens kommt hier niemand lebend raus (diese Formulierung stammt vom amerikanischen Pop-Poeten Jim Morrison). Daraus erwächst eine Antwort – in diesem Fall eine spirituelle Praxis der Liebe, der Güte, des universellen Mitgefühls. Geteilte Verletzlichkeit ist überall verbindend, Feindschaft wird letztendlich absurd.

Schuld und Sühne

Dass die Einsicht in die menschliche Verletzlichkeit auch im Christentum eine zentrale Rolle spielt, muss in dieser Zeitung nicht extra erwähnt werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass in der Antike, an der Wiege der menschlichen Zivilisation, offenbar in mehreren Regionen und Kulturen eine reflexive Bewusstwerdung der schmerzhaften Umstände des Lebens beginnt. Mit der Sesshaftwerdung in den ersten Ackerbaukulturen verschwindet der Garten Eden: Der Mensch verliert seine Unschuld; er überschreitet seine animalische, trieb- und instinkthafte Natur, für die er vorher nicht rechenschaftspflichtig war. Mit der Entstehung der großen Religionen werden Verletzen und Verletztwerden, Leid und Trauma, Schuld und Sühne intensiv verhandelt. Es scheint, als ob der Homo sapiens vor zwei bis drei Jahrtausenden eine Art Bewusstseinssprung gemacht hat – hinein in die Verantwortung, was es heißt, Mensch zu sein. Dass im klassischen lateinischen Begriff der „conscientia“ das moralische Gewissen und die höhere Bewusstheit (also das Wissen über das Wissen) ineinander fallen, ist ein schöner Ausdruck dafür: Der Mensch weiß, dass er bewusst ist – und dass das ethisch bedeutsam ist.

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