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Das Essener Beispiel

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Zwischen den beiden Berufsgruppen Industrie und Landwirtschaft, die sich mit der Bereitstellung der Nahrungsmittel und der Befriedigung der sonstigen leiblichen Bedürfnisse des Kulturmenschen beschäftigen, bestehen Gegensätze. Einzelne sind in dem so verschiedenen Charakter der beiden Erzeugergruppen begründet, andere haben sich im Laufe der Zeit — gewiß nicht zum Vorteil beider — entwickelt, und es wäre hoch an der Zeit, sie abzubauen. Und das sowohl im Interesse der Industrie, für die eine möglichst reibungslose Versorgung ihrer Mitarbeiter mit gesunden, frischen, auch höheren Ansprüchen gerecht werdenden Lebensmitteln zu tragbaren Preisen so wichtig ist, wie auch in dem der Landwirtschaft, die für ihren Betrieb nicht nur vollwertige Industrieerzeugnisse braucht, sondern auch Abnehmer für ihre ständig gute- und mengenmäßige ansteigende Produktion: Im Maße, als die landwirtschaftliche Erzeugung aufhört, nur der Selbstversorgung zu dienen, steigt das Interesse an einem möglichst auf-nahmsfähigen Markt, so wie dies bei der Industrie schon längst der Fall ist.

Leider läßt die Zusammenarbeit oft zu wünschen übrig: Es wird nicht selten etwas erzeugt, für das kaum Abnehmer zu finden sind, und anderseits bestehen Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden können.

In den letzten Monaten wurde auf dem Gebiet der Versorgung der Landwirtschaft mit Elekrogeräten ein neuer Weg eingeschlagen, der, da er auf die Interessen aller Teile abgestimmt ist, sicherlich allen Vorteile bringen wird, wenn er erst nur einmal richtig gegangen werden wird.

Es ist wünschenswert, den einmal eingeschlagenen Weg der Zusammenarbeit noch weiter zu gehen, etwa nach dem Vorbild der „Verbindungsstelle Landwirtschaft-Industrie“, einem am 22. Jänner 1952 in Essen gegründeten Verein, in dem Vertreter beider Gruppen bemüht sind, durch verständnisvolle Zusammenarbeit allen Vorteile zu bringen.

Ein in jeder Hinsicht beachtlicher Erfolg wurde bereits durch die Einrichtung von Milchabgabestellen vorerst in einer Reihe von Kohlengruben erzielt: In unmittelbarer Nähe der an die Förderanlagen angeschlossenen Waschräume wurden einfache Läden eingerichtet, in welchen gekühlte (nicht kalte!) Flaschenmilch an die Bergleute ausgefolgt wird. (Der Nachholbedarf an Flüssigkeit wurde mit 1 bis VA Liter für jede Schicht ermittelt.)

Die Milch wird gerne gekauft und ist sichtlich bekömmlicher, als das früher weitverbreitete stark unterkühlte Sodawasser, das häufig Magenerkrankungen auslöste.

Der Milchverbrauch steigt ständig an, besonders dort, wo sie neuerdings in dicht geschlossenen Pappebehältern durch Automaten abgegeben* oder in das Haus zugestellt, also möglichst nahe an den Verbraucher herangebracht wird: In einem Werk in Bochum zum Beispiel stieg der Milchkonsum in den Monaten Juli bis Oktober von 7082 über 28.200 und '3V030 auf 44.146 Liter, im Kaufhaus Althoff in Essen in der gleichen Zeit von 980 über 6070, 6380 auf 8670 Liter. Je nach Wunsch und Jahreszeit wird die Milch gekühlt oder gewärmt abgegeben. Gleichzeitig werden Beobachtungen mit verschiedenen Zusätzen angestellt, die den Geschmack der Milch abwechslungsreicher machen sollen. Solche von Malz wurden, da die Miloh nun zu süß schmeckte, abgelehnt. Hingegen wurden Zusätze von Erdbeer- und Apfelsäften begrüßt. Neuerdüigs wird auch versucht, die Milch durch einen geringen Zusatz von Kohlensäure erfrischender erscheinen zu lassen.

Durch die Förderung des Milchabsatzes wird in erster Linie der Landwirtschaft gedient, die, das gilt besonders von den kleinen Betrieben, an einem flotten Absatz der anfallenden Frischmilch interessiert ist, da die Verarbeitung weniger einträglich ist. Aber auch für die Arbeiterschaft wie für die ganze städtische Bevölkerung ergeben sich in Ansehung der Bekömmlichkeit und des hohen Gehaltes der Milch an Nährstoffen, Vitaminen und knochenbildenden Salzen neben gesundheitlichen auch wirtschaftliche Vorteile, da es durch diesen Verbrauch jedem leichter gemacht wird, mit seinem Einkommen das Auslangen zu finden, ohne dabei irgend einen Nachteil in Kauf nehmen zu müssen: Denn 1 Liter Trinkmilch kostet in Westdeutschland 38 Pfennige, ersetzt aber den Ankauf von 4 Eiern, 12 Stück Zucker und 35 g Butter, die bei gleichem Gehalt an Eiweiß, Kohlehydraten und Fett 98 Pfennige kosten.

Die über Erwarten guten Erfahrungen auf dem Gebiete der Milchabgabe haben die „Verbindungsstelle Landwirtschaft-Industrie“ veranlaßt, sich auch mit der Förderung des Absatzes anderer Erzeugnisse zu beschäftigen, vorerst — auf dem Wege von Probeessen — durch Ermittlung der Wünsche der Verbraucher hinsichtlich der Güte und Eigenart von Obst, Gemüse und Erdäpfeln, die der Landwirtschaft bekanntgemacht werden; diese veranlaßt nun, bei ihrer Erzeugung auf die Ansprüche und Anforderungen der Verbraucher' Bedacht zu nehmen. So hofft man, allmählich die Schäden zu beheben, die durch die Ausschaltung des freien Lebensmittelhandels durch' 15 Jahre entstanden sind.

Der Verein sucht auch die Mißverständnisse, die sich über verschiedene gegenteilige Auffassungen und Absichten förmlich eingefressen haben, durch gemeinsame Aussprachen und gegenseitige Betriebsbesichtigungen zu beseitigen und Regelungen zu finden, die den Interessen . aller Teile weitestgehend gerecht werden. Die Aufgaben, die sich bei der Lösung dieser. Frage ergeben, sind ebenso mannigfaltig wie schwierig, doch — im Laufe der Zeit — gewiß lösbar. So will man — um nur ein Beispiel zu nennen — sogar die großen Schwankungen in den Eierleistungen der Hühner in den einzelnen Monaten des Jahres durch züchterische Maßnahmen und Umstellung in der Geflügelhaltung ausgleichen und so dem Wunsch der Verbraucher nach gleichmäßiger Belieferung der Märkte mit frischen Eiern entsprechen.

Wenn es auch, infolge grundsätzlicher Unterschiede in den Produktionsbedingungen, niemals gelingen wird, die Belange von Landwirtschaft and Industrie vollständig auszugleichen, so mag dies doch — im Sinne eines Wortes von Goethe — in Einzelheiten gelingen: „Es ist wunderbar, wie dieselben Männer, die sich um Grundsätze streiten, bei der Lösung praktischer Aufgaben tätig und erfolgreich zusammenwirken!“

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