Doch tu ich es leider mit Neigung

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Verträgt sich der grundsätzlich egoistische Antrieb des Menschen mit einer Ethik, die an die ganze Menschheit bindet?

Ich habe einen Freund, der gehört zu den selbstlosesten Menschen, die ich kenne. Doch alles, was er anderen Gutes tut, wird ihm zur bitteren Pille seiner Eigensucht. Er leidet darunter - leidet tatsächlich -, selbstsüchtig zu sein! Zugegeben, das ist ein absonderlicher Fall. Aber er passt in unsere Zeit.

Seit langem schon gibt es in der Philosophie, der Ökonomie und Biologie eine einflussreiche Lehrmeinung, der zufolge alles, was wir tun, aus egoistischen Motiven geschieht. Thomas Hobbes, Autor des zähneknirschenden "Leviathan“ (1651), hatte wahrlich keine schlechten Gründe für seine pessimistische Sicht der menschlichen Natur. Er erlebte den Dreißigjährigen Krieg. Doch bereits Joseph Butler (1692-1752), seines Zeichens anglikanischer Bischof, brachte gegen Hobbes’ Egoismus schlagende Argumente vor.

Wir können jeden menschlichen Antrieb als "egoistisch“ bezeichnen. Warum? Weil es sich um das Wollen eines Wesens handelt, das in der Lage ist, selbstbewusst "ich will“ zu sagen. Das ist das Kainsmal der Eigensucht, oder? Keineswegs, antwortet Butler. Denn der universelle Egoismus ist ein Rad, das nichts dreht: Ich will, ich will, ich will … In Wahrheit kommt es auf den Inhalt dessen an, was man will. Wenn ich anderen Menschen ohne Hintergedanken und Nebenabsichten helfen will, dann will ich zwar etwas, aber deswegen bin ich kein Egoist. Ich will etwas, was mir zwar am Herzen liegt, sich jedoch nicht auf mein eigenes Wohlergehen richtet. In Belangen des Mitgefühls und der Moral ist mir mein Hemd eben nicht näher als mein Rock.

Und die verwirrende Frage lautet nun: Warum wird dieser einfache Sachverhalt geleugnet? Die Antwort ist, denke ich, komplex: Es handelt sich um das Ergebnis eines Vorurteils - der Ideologie des "Individualismus“ -, gepaart mit dem reduktionistischen Credo, alles sei auf eine einzige Formel, ein einziges Element, einen einzigen Ursprung zu bringen. Hier zwei der aktuell folgenreichsten Beispiele.

Rationale Egoisten

Erstens der Homo oeconomicus: Das Modell beschreibt einen Menschen, der angesichts einer Reihe von Möglichkeiten seine Präferenzen klar ordnet und stets jene Alternative wählt, die er den verbleibenden vorzieht. Die Ökonomie spricht vom Idealtyp des "rationalen Egoisten“. Dabei mag die gewählte Alternative ein tugendhaftes, altruistisches Handeln sein, bis hin zur Aufopferung des eigenen Lebens im Dienste der Gemeinschaft. Aber die liberale Wirtschaftstheorie hat, in ihrer Apologie des unbehinderten Spiels der Kräfte am freien Markt, die längste Zeit daran festgehalten, dass im Grunde jeder nur nach seinem eigenen Nutzen strebe.

Zweitens das egoistische Gen: Der Populärevolutionist Richard Dawkins hat in seinem Buch "The Selfish Gene“ (1976) ein wohlbekanntes Doppelspiel höchst erfolgreich auf die Spitze getrieben. Einerseits wird betont, dass das Gen als komplexe molekulare Struktur gar nichts wollen kann; es hat keinen Willen, kein Bewusstsein; es entwickelt sich planlos. Andererseits wird die Metapher - mehr ist es ja nicht! - der Selfishness ausgebeutet. Sie wird in die biologische Tiefenstruktur projiziert: das Gen ist eigensüchtig. Im Umkehrschluss folgt dann, dass alle menschliche Moral aus dem "Egoismus der Gene“ erklärbar sei, und wenn es sich dabei um das selbstloseste Verhalten handelt.

Jeder für jeden verantwortlich

Heute haben wir ein Denk- und Ideenklima, in dem man über die rechte Art, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, kaum nachdenken kann, ohne falsch verstanden zu werden. Wehrt man sich gegen den egoistischen Fehl- oder Kurzschluss, dann landet man gleich bei der Weltsorge. Ist im Zeichen der Globalisierung nicht jeder für jeden verantwortlich? Bekennen wir, die moralischen Subjekte, uns nicht alle gemeinsam zu einer globalen Ethik? Deren Grundsätze sind, wie die Menschenrechte, streng universal. Ihre Einhaltung müssen wir rechtlichen Institutionen anvertrauen. Wir können nicht eigenhändig Weltsheriff spielen, widrigenfalls wir zu feuilletonistischen Maulhelden oder, schlimmstenfalls, zu Amokläufern mutieren.

Gerade weil wir hin und her pendeln zwischen dem "Genussmenschen ohne Herz“ (Hans Peter Duerr) und einer ethischen Universalität, die uns, vollkommen abstrakt, an die ganze Menschheit bindet, kommt der paradoxen Vision eines uneigennützigen Eigennutzes gesteigerte Bedeutung zu. Nennen wir diese Vision "Selbstsorge“. Dahinter steckt freilich ein Konzept, das von vielen bereits in den Keller des abergläubischen Menschheitserbes verbannt wurde: die Seele.

Wohlgemerkt, nicht der Seelen-Mythos soll hier beschworen oder gar wiederbelebt werden. Es geht vielmehr um das, was ich gerne "Prinzip Seele“ nennen möchte. Seit jeher nämlich suchte unsere abendländische Bildungstradition nach einem Angelpunkt menschlicher Selbstfindung. Und dieser lag weder im Individualpsychologischen, naturhaft Subjektiven, noch war er in einem Ethos zu finden, welches das Persönliche einzig als Pflichtort einer universellen Moralordnung gelten ließ.

Das Konzept der Selbstsorge

Müsste ich das, worum es beim Prinzip Seele geht, auf die kürzeste Formel bringen, würde ich sagen: "Selbstsorge ist Seelsorge.“ Jede Seele war, unter welchem Namen immer, ob "anima“, "res cogitans“ oder "transzendentales Subjekt“, im klassischen Denken ein Schöpfungszentrum. Wer zu sich selbst finden wollte, musste das Wunder des Seins bezeugen, es pflegen und formen. Er musste im Verfolg eigener Fähigkeiten nach dem Wahren, Guten und Schönen streben, nicht ohne das ewig Böse zu bekämpfen und die umlaufende Not zu lindern. Mit einem Wort: Seelsorge war Selbstsorge als Schöpfungssorge.

Aber ist der Begriff "Schöpfung“ jenseits religiöser Phantasien und reaktionärer Offensiven - Stichwort "Kreationismus“ - einigermaßen diskutabel? Lässt er sich mit einem aufgeklärten Weltbild vereinen? Sagen wir so: Nicht nur Menschen als geistige Wesen, auch ihre Begriffe machen über die Epochen hinweg eine Entwicklung durch. Und nun ist es gerade jener verfemte Begriff, welcher uns gegen das Dogma des Naturalismus wappnet. Diesem zufolge findet sich am Grund der Welt nichts weiter als das Walten "toter“, weil geistloser Materie und Energie.

Dem steht seit jeher als großer Einspruch entgegen: Im Anfang war das "Wort“ - Logos, Nous, Geist. Erst wenn wir die neomaterialistische Brille abnehmen, werden wir mit einer lebendigen Anschauung der Dinge und einem tieferen Verständnis unserer selbst begabt. Erst dann verkümmert uns nicht alles zu einer endlosen, sinnleeren Produktion eigensüchtiger Gene, woraus nichts weiter entstehen könnte als ein titanisches Gemetzel von Organismen, denen jedes innere Licht fehlt.

Das Konzept der Selbstsorge ersetzt gewiss keine konkrete Moral. Aber es gibt uns ein Instrumentarium in die Hand, um unter uns Menschen eine Grundsolidarität zu etablieren, ohne deshalb unser Selbstfindungsstreben unterdrücken zu müssen. Ich glaube, mein Freund weiß das zu schätzen, obwohl er noch immer darunter leidet, worüber schon Schiller in den "Xenien“ spottete: "Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“

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