Vernunft fordert Geduld

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Warum es in religiös aufgewiegelten Zeiten lohnend sein kann, sich der Gedankenkraft des deutsch-jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn (1729-1786) wieder zu vergewissern.

Der Glaube, sagt man, kann Berge versetzen. Er kann auch, wie wir alle sehen, blindwütig vor Hass und gewalttätig vor Machtgier machen. Gegenwärtig versetzt er vor unser aller Augen nach und nach die scheinbar festgefügten Steine, die spätestens seit der Aufklärung das mühsam errichtete Gebäude der religiösen Toleranz tragen sollen. Denn nach den verheerenden Terroranschlägen seit dem 11. September 2001, nach dem Vernichtungsfuror immer zahlreicherer morgenländischer Hassprediger wider den Westen und seine liberale Lebensart stehen längst auch Kohorten geharnischter Abendländer bereit zur religionspolitischen Wiederaufrüstung.

Bedrohliches Säbelrasseln missbrauchter Religionen. Schrilles Aufwiegelungsgeschrei in mancher Moschee, aber auch ebenso deutliches Auftreten von Vernunftpredigern. Kulturkampfklima droht allenthalben. Und als Antwort darauf, aus der Mitte unserer zivilisierten Säkularisation: Minarettverbote, Burkaverbannung und Kopftuchverfemung? Wohin soll das führen? Sollen wir gezwungen werden, die Geschichte zu wiederholen? Ohnehin lauert überall wieder die Gefahr, dass "Geschichte sich ereignet, wenn die Partie zu Ende ist“, wie Paul Ricœur das beschrieben hat.

Die Schranke der Aufklärung

Religiöse Gefühle bedürfen, so will es althergebrachte Sitte, der besonderen Schonung. Die Vernunft indes darf ebenfalls darauf drängen, nicht mit Füßen getreten zu werden. Wie eine Schranke, konstatierte einmal der englische Ideenhistoriker Isaiah Berlin, schiebe sich das Jahrhundert der Aufklärung zwischen uns und die vorigen Zeiten. Damals waren, um den blutgetränkten Erfahrungen von Jahrhunderten zu entgehen, die Maßgaben der westlichen Zivilisation erfunden worden: Grundvertrauen in Einsicht, Vernunft und individuelle Entschlusskraft. Zurückdrängung der Willkür von patriarchaler Macht und religiösem Terror. Trennung von Kirche und Staat. Hinwendung zu gesicherten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.

Indes, die Schranken zur intoleranten Vor- und Gegenaufklärung dürfen nicht fallen, denn: "Nunmehr wundern wir uns, wie man vormals auf einem so ebnen Wege habe straucheln können. Wir bedenken aber den Aufwand nicht, den es gekostet, diesen Steig durch die Wildniß so zu ebnen.“ Das schrieb, "mit allergnädigsten Freyheiten“, Moses Mendelssohn 1783 in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk "Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“, dessen erste Sätze lauten: "Staat und Religion, bürgerliche und geistliche Verfassung, weltliches und kirchliches Ansehen: diese Stützen des gesellschaftlichen Lebens so gegeneinander zu stellen, dass sie sich die Waage halten, dass sie nicht vielmehr Lasten des gesellschaftlichen Lebens werden und den Grund desselben stärker drücken als was sie tragen helfen - dieses ist in der Politik eine der schwersten Aufgaben, die man seit Jahrhunderten schon aufzulösen bemühet ist und hie und da vielleicht glücklicher praktisch beigelegt als theoretisch aufgelöset hat.“

Mendelssohn beschreibt die Befürchtung der Fundamentalisten und die Notwendigkeit der Gegenwehr einer offenen Gesellschaft. In religiös aufgewiegelten Zeiten kann es lohnend sein, sich der Gestalt und Gedankenkraft Mendelssohns, dieses Gründervaters und Wortführers der europäischen religiösen Toleranz, wieder zu vergewissern. Gelegenheit dazu bieten sowohl die (in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt) erschienene zweibändige Studienausgabe ausgewählter Werke als auch die erste von einem israelischen Gelehrten, dem an der Bar-Ilan-Universität wirkenden Historiker Shmuel Feiner, verfasste Biografie (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht).

Christliche Proselytenmacher

Mit Moses Mendelssohn befinden wir uns umgehend mitten im Disput um die Duldung der Religionsfreiheit, die er so beharrlich, gegen alle Widerstände und Zumutungen, erstritt. Denn die Probleme, denen sich dieser entschiedene Reformator des religionspolitischen Verhältnisses von Individuum und Staat gegenübersah, kehren nur in anderer Verkleidung wieder: Seine Forderung nach Neutralität des Staats gegenüber den religiösen Überzeugungen seiner Bürger - nicht aber gegenüber ihren Handlungen - trotzte er als Vertreter der jüdischen Minderheit dem Vormachtsanspruch der christlichen Mehrheitsgesellschaft ab. Die geforderte Äquidistanz zwischen den Glaubensbekenntnissen einerseits und dem duldsamen Staat anderseits wollte er vom radikalen französischen Aufklärungsmodell Voltaire’scher Prägung unterschieden wissen, dessen Unterdrückung religiöser Riten und Symbole nur Aufruhr und einen Gewissenskonflikt für den sowohl gläubigen wie staatstreuen Bürger hervorriefe - eine Befürchtung, die bis heute durch die umstrittenen staatlichen Maßnahmen etwa der französischen Republik oder Belgiens gegen islamische Bräuche, durch Kopftuch- und Burkaverbote bestätigt wird.

Mendelssohns Ringen um religiöse Toleranz bescherte ihm viel Plagen und Ungemach. Die christlichen Proselytenmacher versuchten eilfertig, ihn wegen seiner grundsätzlichen Anerkennung aller drei monotheistischen Weltreligionen zum Abschwören seines jüdischen Glaubens zu bewegen: Konversion statt Integration. Unrühmlich tat sich diesbezüglich vor allem der Schweizer Theologe und Physiognom Johann Caspar Lavater hervor. Er erschlich sich Mendelssohns Bekanntschaft in Berlin, nur um ihn danach, 1769, in der Vorrede einer von ihm übersetzten Apologetik des Christentums öffentlich aufzufordern, diese entweder zu widerlegen oder sich der Taufe zu unterwerfen - "was Socrates getan hätte, wenn er diese Schrift gelesen und unwiderleglich gefunden hätte“.

"Schrecknisse des Aberglaubens“

Die Anspielung war umso perfider, als Mendelssohn 1767 mit seiner schon bald in elf Sprachen übersetzten Studie "Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ ein populärphilosophischer Bestseller gelungen war, in dem er am Beispiel von Sokrates seine eigene Aufgabenstellung als jüdischer Aufklärer umrissen hatte: Nicht nur "Tugend und Weisheit unter seinen Nebenmenschen zu verbreiten“, sondern vor allem, "was das Schwerste war, die finstern Schrecknisse des Aberglaubens“ zu bekämpfen. Wie das zu geschehen hat, beschrieb der von seinen Zeitgenossen bald als "deutscher Sokrates“ Gewürdigte 20 Jahre später in einem bündigen Artikel für die Berlinische Monatsschrift: "Die Quelle des Übels kann nicht anders als durch Aufklärung verstopft werden. Man helle die Gegend auf, so verschwinden die Gespenster. Man ziehe ans Licht, was so gerne im Finstern schleichet; bringe alles an den Tag, was man von den Bemühungen, geheimen Verbindungen, Anstalten und Verrichtungen der Schwärmerei in Erfahrung bringen kann: mit Verachtung gegen den Verführer, wo er in seiner Blöße gezeigt werden kann; oder mit Verschonung und ohne Geissel der Satyre gegen den Verführten, der Mitleid, aber nicht Hohn verdient.“

Der Zweifrontenkampf gegen die fundamentalistische Intoleranz der fremden Mehrheits- und der eigenen Minderheitsgesellschaft wurde von Mendelssohn mit intellektueller Bravour geführt. Zuweilen freilich drohte er ihn auch zu zermürben. Allerdings fand er bereits als 23-Jähriger in dem gleichaltrigen ehemaligen Theologie- und Medizinstudenten Gotthold Ephraim Lessing einen tatkräftigen Freund und Mitstreiter.

Moses Mendelssohn hat den gedanklichen Bogen von Athen (Antike) über Jerusalem (Judentum) bis ins vorrevolutionäre Europa (Aufklärung) gespannt. Sein Toleranzgebot ist gerichtet gegen jene Eiferer, die sich stets aufs Neue berechtigt sehen, einem den Himmel zu versprechen und statt dessen die Hölle heiß zu machen. Aber, wie ein Kernsatz Lessings lautet: "Was Blut kostet, ist gewiss kein Blut wert.“

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