Wir – die ahnungslosen Augenzeugen

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Persönliche Reminiszenzen eines Außenpolitik-Journalisten an die Wochen des kommunistischen Todeskampfes. Und an die Geburtswehen einer neuen Zeit, die zu begreifen wir lange, viel zu lange gebraucht haben.

Dobersberg im nördlichen Waldviertel. Letzter Ort vor dem Übergang nach Tschechien. Einst das „Ende der Welt“ – dahinter nur noch Stacheldraht, Minen, Wachtürme. Jetzt – zwanzig Jahre nach der Zeitenwende – bringt ein großes Schild am Straßenrand das Wunder auf den Punkt: „Achtung – keine Grenze“.

Und tatsächlich: Leer wirken heute die alten Grenzgebäude. Keine Kontrolle mehr, keine Angst vor Schikanen – stattdessen gleitende Übergänge. Freie Fahrt.

Es sind Schauplätze wie dieser, an denen sich die Erinnerung an 1989 neu auflädt: An die Tage und Wochen des kommunistischen Todeskampfs. Und an die Geburtswehen einer neuen Zeit.

Als außenpolitischer Journalist gehörten Grenzüberschreitungen damals zu meinem Geschäft. Aber nicht – oder kaum – in Richtung Osten. Prag, Budapest, gar Bratislava: wie nahe sind sie – und wie fern waren sie uns doch!

WojtyDlas speckige Aktentasche

Und wie fremd schienen uns jene, die bisweilen von „drüben“ kamen – Karol WojtyDla, der Erzbischof aus Krakau etwa, mit seiner uralten, speckigen Aktentasche. Oder die Bürgerrechtler, die wir geheim in Parks oder Hoteltoiletten Osteuropas trafen. Nie wäre uns eingefallen, sie eines Tages auf dem Stuhl Petri oder in Regierungsämtern zu vermuten.

Und dann das Jahr, das alles veränderte. Das Taumeln und Stürzen eines riesigen Systems der Unterwerfung. Manches davon ist als persönliches Erlebnis unvergessen.

Ende Oktober 1989: In der DDR ist Erich Honecker eben zurückgetreten. Ungarn feiert schon das Ende der Diktatur. Ladislav Adamec aber, der letzte KP-Premier der ÇCSSR, wagt noch einen offiziellen Besuch in Österreich – und lädt mich zum Voraus-Interview nach Prag. Ich denke mir: Wenn schon Adamec, dann auch Václav Havel, der Dichter-Dissident, und JiÇrí Hájek, der Außenminister des „Prager Frühlings“ von 1968. Vertraulich organisiere ich mir Gespräche mit beiden. In der Staatslimousine, die mich von Wien nach Prag bringt, will ich noch Havels jüngstes, in Haft entstandenes Buch („Briefe an Olga“) lesen. Aber: Geht das in einem Regime-Auto? Also verstecke ich es hinter einem falschen Schutzumschlag: „Der rasende Reporter“ von Egon Erwin Kisch. Unterwegs schaut die begleitende KP-Pressedame in meine Lektüre: „Jaja, Kisch“, sagt sie, „einer unserer Großen!“ Ich fühle mich so tollkühn wie die Beatles, die – so heißt es – im WC des Buckingham-Palastes Haschisch geraucht haben …

In JiÇrí Hájeks Prager Wohnung ist es eiskalt. „Sie haben mir die Heizung abgedreht, um ihre ‚Installateure‘ schicken zu können – vermutlich sind die Wanzen in meiner Wohnung wieder defekt“, sagt er leise. Wir reden lieber an einer Bushaltestelle.

„Havel ist eine Null!“

Dann, oben am Hradschin: Premier Adamec ist nett – und doch plötzlich cholerisch. Wie er künftig mit Havel und Hájek umgehen wolle, frage ich ihn: Weiter einsperren – oder ist das schon kontraproduktiv? Adamec’ Halsschlagader tritt deutlich hervor: „Beide sind Niemande“, bellt er, „einfach Null.“

Zweimal Taxiwechsel, dann sitze ich zuhause bei Havel. Die Wohnungstüre, x-mal eingeschlagen, ist notdürftig zusammengeflickt. Olga bringt Keks, Václav wirkt übermüdet: „Die Führung weiß nicht mehr, was sie mit mir tun soll: Jetzt einsperren – ein Fehler! Nicht einsperren – auch ein Fehler“, sagt er. Und: „Ein wenig Haft wäre ganz gut, um mehr schlafen zu können.“ Dass Adamec ihn eben als „Null“ bezeichnet hat? „Ein Riesenfehler!“ lacht Havel.

Drei Tage später: Am Wiener Ballhausplatz startet Staatsgast Adamec eine Pressekonferenz überraschend mit Blick auf mich. Sein – inzwischen weithin zitiertes – Havel-Urteil hat ihm intern nicht gut getan, denn: „Nur jetzt keine Dissidenten reizen“, heißt der Regime-Kurs. Also sagt Adamec vor den Kameras zu mir: „Mein Freund, Sie wissen: Ich habe Havel als ‚Niemand‘ und ‚Null‘ bezeichnet. Das möchte ich klären: Natürlich habe ich weder den Dichter noch den Menschen Havel gemeint. Ich meine nur: Havel hat keine politische Funktion bei uns …“ Die ganze Ratlosigkeit der KP-Führung wird deutlich. Nur zwei Monate später ist Adamec gestürzt und Havel Staatspräsident.

Im Dezember, als auch in der ÇCSSR der „Eiserne Vorhang“ zusammenbricht, macht sich eine kleine „Expedition“ spontan nach Bratislava auf: André Heller, Hannes Swoboda (SP), Heribert Steinbauer (VP) und ich. Die Grenze ist wie weggeblasen. Und Preßburg so nahe. Das Denkmal für die Sowjet-Soldaten ist rosarot überpinselt, die Stadt im Fieber.

Im Urlaub ORF und „Club2“

Wir sind zur Spontan-Diskussion in ein Theater geladen. Als wir auf die Bühne kommen, beginnen Menschen im Publikum zu weinen und wollen uns berühren – um sicher zu sein, dass wir wirklich da sind. „Wir kennen euch alle“, sagt einer, „wir haben sogar dort unsere Urlaube gemacht, wo wir ORF-Nachrichten und den Club2 empfangen konnten. Aber wer hätte je geglaubt, dass ihr zu uns kommt!“

Kurz vorher erlebe ich noch Polen – zwischen politischem Aufbruch und wirtschaftlicher Verzweiflung. Der Hotelportier weigert sich, zum offiziellen ZDloty-Kurs zu wechseln – „das wäre Wahnsinn“. Besser illegal, rät er. Die Wende ist zunächst mit 4000 Prozent Inflation und Mangel erkauft: kein Zucker, kein Fleisch, kein Toilettenpapier …

Ein Treffen mit Autoren enthüllt die Verelendung der Intellektuellen im zerbrochenen KP-Staat: Einer bietet mir seine Pfeifen gegen Bares an, einer seine Gedichte. „Wir brauchen ja nicht viel“, sagt er, „wo das Hirn größer ist, darf der Magen ruhig etwas kleiner sein …“

Und ein Historiker zieht Bilanz über 40 Jahre „Sozialismus“: „Das Volk hat so getan, als würde es arbeiten – und der Staat so, als würde er dafür bezahlen. Beides war eine Lüge!“

Havel, Weizsäcker und Klestil

Herbst 1989: Ein System dankt ab. Freiheit siegt über Gewalt, Einheit über Trennung. Wir haben es nicht kommen sehen. Und wir haben auch nachher zu lange gebraucht, um das ganze Ausmaß des Wandels zu begreifen. Vier Jahre waren es für mich. Erst als die Präsidenten Havel und Klestil im Dezember 1993 gemeinsam den Prager Christbaum entzündeten. Erst, als – acht Tage später – die Präsidenten Weizsäcker und Klestil im unwirklichen Licht von Nebel, Regen und Scheinwerfern durch das Brandenburger Tor von West- nach Ostberlin hinübergingen. Erst da war Europa für mich auch im Herzen ungeteilt.

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