6614168-1955_20_10.jpg
Digital In Arbeit

Der deutsche Sozialkatholizismus gestern

Werbung
Werbung
Werbung

„Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im 19. Jahrhundert“ nennt sich das kürzlich (im Verlag J. P. Bachem, Köln) erschienene, 525 Seiten zählende Werk des bekannten Historikers Emil Ritter. (Preis 19.50 DM.) Er bietet vor allem eine schon längst fällige Geschichte und Vorgeschichte des für die Sozialpolitik der „Wilhelminischen Periode“ maßgebend gewesenen „Volksvereins für das katholische Deutschland“. Zunächst wird die Sorge der Kirche um die Arbeiterschaft an der Schwelle des Industriekapitalismus beschrieben und die um 1865 gestellte Frage erwähnt, „warum die Kirche nach den Epochen des Feudalismus und des Bürgertums nicht auch vorherrschend Arbeitergestalt annehmen sollte?“ Noch war aber die Frage des „Arbeiterpriesters“ zu früh gestellt! Näher lag eine andere Frage. Sie spaltete die katholische Oeffentlichkeit in zwei „Richtungen“. Die „Liberalen“ meinten, die Arbeiterfrage durch eine Tellersammlung in der Kirche lösen zu können. Die „Konservativen“ hingegen forderten Zuständereform, staatliche Intervention. In der Frage nach dem Ausmaß dieser entluden sich neuerdings zwei „Richtungen“ im Sozialkatholizismus.

Es entstand Mitte der siebziger Jahre die Schule Vogelsangs, die eine grundsätzliche Beseitigung der kapitalistischen Klassengesellschaft zugunsten einer ständischen Ordnung und auch einer solchen in der Großindustrie verfocht und ihren Sitz in Wien hatte: und es entstand 1890 der von Windthorst gegründete und von den Prälaten Hitze und Pieper geformte „Volksverein“ in München-Gladbach mit dem Programm: Praktische Sozialarbeit und Sozialpolitik auf dem Boden der kapitalistischen Klassengesellschaft bei Ablehnung der Vogelsangschen „Romantik“ und Sozialreform“.

Daß in beiden „Richtungen“ zwei Sozialtypen in der Führung waren, in Wien der „Adel“, in München-Gladbach der „Bürger“, hebt Ritter richtig hervor, ebenso auch die Tatsache, daß „Rerum novarum“ mehr für den „Bürger“ als für den „Adel“ sich entschied. Christliche Sozialarbeit sollte nicht mehr heißen: Kapitalismuskritjk, Verneinung der Zinswirtschaft, Griff in romantisch-restaurative oder sozialistisch-revolutionäre Ideale. Sie konnte fast nur noch bedeuten: innerkapitalistische Ausheilung, Einsatz auf dem Boden der gegebenen Tatsachen, auch der Wechselstube und Börse.

Wieder spaltete sich, führt Ritter aus, der deutsche Sozialkatholizismus bei der Frage nach der Organisation dieses Einsatzes! Ein Teil der Bischöfe meinte im Einklang mit gewichtigen Vertretern der „Laien“welt, im vielgenannten Pastorale vom 23. August 1900, daß kirchlich geführte Arbeitervereine schon allein befähigt seien, neben der seelisch-geistigen Wohlfahrt auch die materiellen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Dagegen wendete sich aber der „Volksverein“. Er berief sich auf die Notwendigkeit spezieller, praeter-kirchen-rechtlicher Interessen- und Standesorganisationen der Katholiken. Versuche daraufhin, den Männern von München-Gladbach, allen voran dem Prälaten Pieper, das Reden und Schreiben zu verbieten, scheiterten. Am Ende siegten auch die Männer von München-Gladbach! Denn zehn Jahre später, am 14. Dezember 1910, revidierten die Bischöfe in Fulda das Pastorale vom 23. August 1900 mit dem Ergebnis: daß der katholische Arbeiter weiterhin in seiner lr.teressenorganisation, in der Gewerkschaft, d a-neben aber auch in einem kirchlich geführten katholischen Arbeiterverein arbeiten, mithin doppelt organisiert sein möge! Es setzte sich der Grundsatz in der Folgezeit durch, daß eine katholische Arbeiterbewegung durch Mitarbeit ihrer Mitglieder in den Gewerkschaften, auch in interkonfessionellen, ergänzt werden müsse. „Seelsorge“ da, „Mehlsorge“ dort, um ein Wort Seipels zu gebrauchen'

Nach 1918, nach dem Krieg, geriet der „Volksverein“, was Ritter ausführt, in schwere Krisen. Erstens wurde von ihm verlangt, vorerst kirchlichen Aufgaben, z. B. den Schulfragen, sich zu widmen. Der „Volksverein“, der Turm der deutschen Sozialpolitik 1890—1918, sollte allgemeiner Katholiken-und Kirchenverein werden. Das aber widersprach dem Vermächtnis Windthorstens. Dennoch gehorchte der „Volksverein“ — mit Verlust und Verzicht im sozialen Bereich. „Die Stimme“, schreibt der Verfasser, „die einst im katholischen Deutschland als Orakel in sozialen Angelegenheiten gegolten, war damit verstummt.“

Aber noch aus einem anderen Grunde „verstummte“ München-Gladbach, was Ritter nicht genügend herausstellt. München-Gladbach hatte doch seine Mission im Geviert des „Kapitalismus“ gesehen — und war dadurch in das Geviert der neuen, antikapitalistischen Sozialwelt nach 1918 zu spät gekommen. Hoch kamen in Deutschland — im Anschluß an die Romantik, an die Vogelsang-Schule, an die Wiener Richtungen der Eberle, Lugmayer, Orel, Spann — die romantisch-berufsständischen Gedanken. Im Gegensatz dazu hatte aber München-Gladbach seine geschichtliche wie theoretische Existenz. Diese zerfiel notwendig mit dem Siege seines ehemaligen Gegners.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung