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Die Tragik der Emigration

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Die letzten Eindrücke, die jene Menschen aus Oesterreich mit hinüber nahmen, waren nicht sehr erhebend. Sie hatten noch sehen und hören müssen, wie die Hunderttausend auf dem Heldenplatz dem „Führer“ zujubelten, sie waren von Halbwüchsigen dazu verhalten worden, die Straßen zu waschen. Manche von ihnen hatten die Zeit bis zu ihrer Emigration im KZ verbringen müssen. (Das dort Erlebte darf allerdings nicht Oesterreich angelastet werden.) Gerade jene letzten Eindrücke aber sind es erfahrungsgemäß, die am längsten nachklingen. Wenn daher heute beispielsweise die Nachricht von einer Amnestie ehemaliger Nationalsozialisten durch die amerikanische Presse geht, so löst dies bei den Emigranten in Erinnerung an die Märztage 1938 Unmutsgefühle aus. Dafür müssen wir Verständnis haben. Anderseits müßten diese Ex-Oesterreicher in den USA langsam einsehen, daß die Welt nicht stehengeblieben ist. Seit den Märztagen 1938 sind gewaltige Veränderungen eingetreten. Jenes rührende Bild vom einstigen Oesterreich, das sie noch in ihrer Erinnerung tragen mögen, stimmt mit den Tatsachen nicht mehr überein. Das ist die Tragik der Ex-Oesterreicher, das ist die Tragik jeder Emigration: Sie verliert den Kontakt mit der Wirklichkeit.

Psychologisch bedeutsam für den oft mit „Haß-Liebe“ umschriebenen Emigrationskomplex ist aber noch ein anderes. Die österreichische Minderheit von 1938 stellt nicht nur materielle Ansprüche, wie zum Beispiel berechtigte Restitutionsforderungen, sondern erhebt darüber hinaus durch ihre Kri-t i k indirekt auch Anspruch auf die Gestaltung der österreichischen Verhältnisse — und dies, ohne auf die vorteilhafte Position als amerikanische Staatsbürger verzichten zu wo 1-1 e n. Aus dieser psychologischen und nationalen Zwitterstellung heraus entstehen die eigentlichen Konflikte mit der alten Heimat. Sie verstärken sich, wenn solche Kritiken von Ex-Oesterreichern erhoben werden, denen die USA die Vertretung gewisser Verwaltungsinteressen in Oesterreich anvertraut hat.

Dann entsteht das psychologische Phänomen des „Ex-Oesterreichers im amerikanischen i Hoheitsgewande“, der im Herzen das Bild jenes Oesterreichers trägt, das nicht mehr ist, und vor sich eine überhöhte Realität „seiner“ neuen mächtigen Wahlheimat sieht.

Dieser ganze Komplex der Emigration — national und psychologisch schwierig und viel verästelt, im ganzen wie im einzelnen wohl nur mit Feingefühl zu lösen — hat grundsätzlich keinen Zusammenhang mit den sozialistisch-kollektivistischen Einflüssen aus den USA, wie sie uns in den letzten Jahren wiederholt begegnet sind. Man pflegt diese Einflüsse häufig summarisch der europäischen („jüdischen“) Emigration in den USA anzulasten. Diese Simplifizierung ist falsch — und gefährlich. Wir stehen hier nicht einem Emigrationsproblem, sondern dem Gesamtphänomen des internationalen Sozialismus gegenüber, dessen weltweite Organisation natürlich auch die Vereinigten Staaten umfaßt. Wir blicken zumeist gebannt auf die Internationale der Kommunisten und übersehen, dabei, daß es auch . eine mächtige sozialistische Internationale gibt. Wir meinen, das Problem des Sozialismus in den Vereinigten Staaten mit der Feststellung abtun zu dürfen, daß es praktisch eine Sozialistische Partei in den Vereinigten Staaten nicht gibt, und übersehen dabei, daß sich der internationale Sozialismus des Führungskaders der amerikanischen Gewerkschaften und einflußreicher Kader der Demokratischen Partei bemächtigt hat. Wir übersehen, daß der Sozialismus in den Staaten nicht auf Massenorganisationen fußt, sondern auf kleinen wohlorganisierten politischen Zellen und Gruppen, wie beispielsweise den Americans for Democratic Action (ADA), die es sich zur Aufgabe gesetzt haben, politische Schlüsselpositionen einzunehmen oder zu beeinflussen. Das Studium der Geschichte der englischen Fabian-Sozialisten, eines sozialistischen Brain-Trusts, dem es unter strikter Vermeidung des Wortes Sozialismus gelang, die alte Liberale Partei Englands zu zersetzen und in eine de facto sozialistische Labour Party umzuwandeln, würde interessante Vergleichsmomente zu ähnlichen Bestrebungen in den Staaten zutage fördern.

Hier also wird anzusetzen sein — und nicht immer gleich bei der „Emigration“. Ist erst einmal klar erkannt, wo die Grenze läuft, so wird es auch leichter fallen, beide Probleme — zwei getrennte Probleme — getrennt zu lösen: das Emigrationsproblem durch psychologisches Verständnis und menschliche Einsicht — und die Flut des Kollektivismus durch den festgefügten Damm, mit den überzeugenden Argumenten der freien demokratischen Ordnung.

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