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Eine notwendige Erinnerung

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In unserem öffentlichen Leben treten Merkmale auf, die besorgt machen. Es ist am Platze, offen davon zu reden.

Vor einem halben Jahre war es noch anders. Noch war die staatliche Verwaltung und die Gerichtsbarkeit erst unsicher in Gang gekommen; unter irgendwelchen Notdächern suchten sie sich dem trümmerhaften Zustand zu entwinden. Ein Provisorium ersetzte Regierung und die normale Formung der politischen Kräfte. Der Staat zerfiel in Inseln, die untereinander kaum eine Verbindung hatten, weil die Verkehrseinrichtungen zerstört waren und der kaum überwundene Kriegszustand noch Hemmungen aller Art zurückgelassen hatte. Wien, das Zentrum der staatlichen Apparatur, war so sehr isoliert, daß hier erlassene Gesetze über die Bannmeile wenig hinausreichten. Überall fehlte es am nötigsten. Vor allem in Wien und den niederösterreichischen Industriestädten hausten Hunger und eine große Kindersterblichkeit. Es war eine Lage voll der Qualen und Gefahren. Aber ein starker, fjeudiger Aufbauwille war im Aufbruch. Zwischen Schutt und Trümmern erhob sich eine beglückende Zuversicht. Wir hatten viel, sehr viel verloren. Aber wir hatten unser österreichisches Vaterland wiedergefunden. Und Menschen aller Parteilager waren einig darin, jedes Trennende zurückzustellen und alle Kraft für die große Pflicht, die Neuaufrichtung dieses Landes, daranzugeben. Männer der verschiedensten Gesinnungsrichtungen, die sich in den Kerkern und Konzentrationslagern gefunden, und solche, die in .der Widerstandsbewegung ihr Leben eingesetzt hatten, erneuerten das heiße Gelöbnis, eine von alten Irrungen freie neue Gemeinschaft im Geiste friedlichen Verstehens und im Namen einer großherzigen Liebe aufrichten zu wollen. Ein frohes Aufatmen ging damals durch die Menschen. Endlich. Wir werden wieder Österreicher sein. Wir werden zusammenhalten. Wir werden für Volk und Land unser Bestes geben!

So war es im Sommer nach der Waffenruhe. Es sei nicht gesagt, daß die allgemeine Linie von damals verlassen worden wäre. Aber es äußern sich Erscheinungen, denen rechtzeitig, ehe es zu spät ist, begegnet werden soll.

Ein alterfahrener, angesehener Publizist der Linken schrieb am 26. September in der Tageszeitung der drei geeinigten demokratischen Parteien das ernste Wahrwort: „Wir werden entweder einig sein oder wir werden überhaupt nicht sein“, und er schloß seine Gedankengänge mit dem Satz: „Die Demokratie, das österreichertum und der tiefe Friedenswille, das sind die drei Leitsterne, die uns über alle Bitternisse des Tages hinweg einer schöneren Zukunft, einem gedeihlichen Gemeinschaftsleben entgegenführen werden.“ Einige Wochen zuvor war das Erscheinen der selbständigen Tagespresse der drei einzelnen Parteien mit einer Vereinbarung eingeleitet worden, die grundsätzlich feststellte, die politische Grundhaltung dieser Tageszeitungen werde „auf die positive Zusammenarbeit, Schicksalsverbundenheit und das gemeinsame Aufbauprogramm abgestellt“ sein, in allen Fällen von Auffassungsverschiedenheiten werde „die Stellungnahme bei aller Eindeutigkeit notwendiger Klarstellung rein sachlich geführt und die Polemik in Inhalt und Ton auf diesem Niveau gehalten“ werden; jede persönliche Polemik, soweit ihr nicht strafbare kriminelle Handlungen zugrunde liegen, sei zu vermeiden.

Die Vereinbarung wurde ein gutes Unterpfand und sicherte selbst in der Wahlzeit, wenn auch kein restloses, doch imme erträgliches Maßhalten. Doch die Entwicklung scheint sich jetzt zum Schlimmeren wenden zu wollen. Oft muß man sich fragen: Ist der harte Diskant, der da und dort jetzt aus den Auseinandersetzungen in der“ Presse aufschrillt, noch Ausdruck des Willens, der die Vereinbarung , vom 7. August vorigen Jahres diktierte? Führt dieser — sagen wir — staatsanwaltliche Stil, der sich an einzelnen Stellen der Publizistik einzubürgern droht, zu etwas Gutem? Persönliche Polemik ergeht sich in schweren falschen Anschuldigungen gegen Männer, die, Zierden des journalistischen .Standes, den nazistischen Terror zu überstehen rer-mochten und sich nun einer neuen Feme gegenübersehen. Von Woche zu Woche gleiten ähnliche — letztlich aus politischen Gegensätzen kommende — Ausfälligkeiten tiefer von der Ausgangsstellung ab, die die Presse noch in gemeinsamer Haltung vor einem halben Jahre bezogen hatte.

Man kann diese Verschärfung der Gegensätze im gedruckten Wort nicht leichthin als journalistische Fehden abtun. Abgesehen davon, daß alles getan werden soll, die Wiederkehr alter schädlicher Methoden zu verhüten, ist heute die Tageszeitung die Fahne großer Ideenrichtjungen, verantwortliche Wegweiserin für ihre Gesinnungsgemeinschaft, aber auch für alle, die wissen wollen, wohin ihre Führung strebt. Man kann nicht Lieblosigkeit in die Massen streuen und hoffen, damit die Gemeinsamkeit zu fördern, man kann nicht öffentlich Razzien, auf Menschen anderer Gesinnung machen und erwarten, daß man damit,dem Frieden diene.

Selbst wenn wir heute alle mitsammen nicht wüßten, wie sehr die leidenschaftliche Zerklüftung des Parteiwesens zu dem erlittenen Unglück beigetragen hat, müßten wir uns doch immer vorhalten, wie schmal und gebrechlich die Brücke ist, auf der wir Österreich über einen Abgrund zu führen haben. Ein Staat, der gegenwärtig nur ein Sechstel seiner Ausgaben aus seinen Einnahmen zu schöpfen vermag, der aus dem zusammengebrochenen System einen künstlich aufgeblähten Verwaltungskörper übernommen hat, der so groß ist, daß auf fünf Erwerbstätige ein öffentlicher Angestellter fällt, ein Staat, dessen Produktionsapparat in breiten Segmenten noch zum Stillstand verurteilt ist — ein* solcher Staat hat so ungeheure Aufgaben der Gesetzgebung und Verwaltung vor sich, daß sie nur mit einträchtiger Anspannung aller Energien zum gemeinsamen Wohl gelöst werden können.

Es ist nicht Mißtrauen, das zu solchen Erwägungen lenken muß, sondern der Wunsch dazu beizutragen, daß in Erkenntnis der uns umgebenden unbarmherzigen Wirklich“-keiten die Verbitterung der Beziehungen in unserem öffentlichen Leben nicht weitergeführt werde und das Gemeinsame, die werktätige Liebe für Vaterland und Volk in unserer jungen Demokratie zu Recht und Tat werde.

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