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Für die Zukunft lernen

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Es ist verständlich, daß Österreicher mit der inneren Geschichte ihres Landes zwischen den Weltkriegen nicht zurecht kommen. Die jüngere Generation kann sich von der damaligen wirtschaftlichen Lage und den politischen Spannungen kaum eine Vorstellung machen, denn für diese Generation sind Arbeitslosigkeit und Bürgerkriege höchst legendäre Begebenheiten. Die Mitglieder der älteren Generation, die an den innerpolitischen Kämpfen der ersten Republik oft sehr beteiligt waren, denken nicht gerne an enttäuschte Hoffnungen oder an Bindungen und Tätigkeiten, die völlig danebengegangen sind.

Dennoch sollte gerade jetzt Österreichs Geschichte zwischen den Weltkriegen mit allen unangenehmen Aspekten so klar wie möglich sine ira et studio zur Sprache gebracht werden. Dies ist die ältere Generation Österreichs künftigen Generationen von Österreichern schuldig. Es waren schließlich die Erkenntnisse eines Österreichers (der_ übrigens überall in der zivilisierten Weit mehr gewürdigt wird als in Österreich), daß zweckmäßiges Verhalten und zielbewußtes Handeln vor allem behindert wird durch aus dem Bewußtsein verdrängte Tatsachen einer peinlichen Vergangenheit. Die in Österreich andauernde politische Entspannung verführt begreiflicherweise zur Verdrängung überholter Gegensätze. Österreicher denken nicht gerne daran, wie sie einander bekämpft, unterdrückt und verfolgt haben. Solche Verdrängung beruht zürn Teil auf Bequemlichkeit, aber zum Teil auch auf der verständlichen Furcht vor einer Heraufbeschwörung der bösen Geister des verhängnisvollen Parteienzwistes vergangener Jahre. Dennoch sollte eine Periode politischer Entspannung zu einer Durchleuchtung vergangener Gegensätze benutzt werden — gerade, um zu verhindern, daß Erinnerungen an diese Parteienkämpfe den Extremisten und Fanatikern als Zündstoff dienen könnten, sollten veränderte Umstände zu erneuerten Spannungen Anlaß geben. — Dazu die Worte von Milovan Djilas: „Die Vergangenheit wird, sobald wir sie zu erforschen beginnen, zu einer lebendigen Realität.“ Eine objektive Erfassung vergangener Parteikämpfe ist nicht leicht, denn hier bedarf es der Fähigkeit, den gegnerischen Gesichtspunkten gerecht zu werden. Zugleich will man auch an den Männern, die sich der eigenen Sache geopfert haben, keinen Verrat begehen. Oft will man auch den Veteranen des eigenen Lagers nicht den ihnen gebührenden Respekt versagen. Anderseits wird In Österreich die Entwicklung einer solchen objektiven Sicht der Vergangenheit nicht nur durch ein Vierteljahrhundert von harmonischer Aufbauarbeit erleichtert, sondern auch durch die Persönlichkeiten aus allen drei politischen Lagern, deren Zusammenarbeit in der Ersten Republik trotz anscheinenden Versagens dennoch die Grundlage für die Zweite Republik gelegt hat. Hier sollten daher Österreicher aus allen Lagern den Männern ihre Achtung erweisen, die durch die Verfassung von 1929 die verfassungsmäßige Grundlage geschaffen haben, auf der die österreichische Republik jetzt steht

Eine gemeinsame, allösterreichische Würdigung von Renner, Seitz und Danneberg, von Seipel, Ramek, Kun-schak und Jodok Fink, von Schober, Härtleb und Winkler wäre vielleicht der erste Schritt zur Entwicklung einer historischen Sicht der leidigen Parteienkämpfe der zwanziger und dreißiger Jahre in würdiger Besinnung. Dies sollte es den Historikern in den einzelnen Lagern ermöglichen, die Geschichte der Ersten Republik in ihrer Perspektive darzustellen. Dabei wären zwar würdelose Schuldbekenntnisse zu vermeiden, doch müßte dadurch das Entstehen von parteiischen Legenden möglichst erschwert werden. Die Konzipierung von allgemein akzeptablen historischen Perspektiven sollte eine solide Grundlage für eine dauernde Zusammenarbeit der Nachkommen der Feinde von gestern schaffen.

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Soweit die Worte von Walter B.' Simon, Professor für Soziologie in Cleveland (Ohio). Zur gleichen Stunde, als dieses Manuskript in der Redaktion eintraf, lag — ein Alarmmf am Österreich' — mit einiger Verspätung das Flugblatt der Hörer des Historischen Instituts der Wiener Universität vor uns, in dem vor einigen Wochen zu einer Protestversammlung eingeladen wurde. Protestiert wurde damals gegen das Ansinnen östereichi-scher Soziologen und Politologen, den Geschichtsunterricht in den Oberklassen der allgemeinbildenden Schulen Österreichs einzuschränken, wenn nicht überhaupt abzuschaffen. Die Realisierung dieses Ansinnens käme — daran kann unter Wissenden kein Zweifel bestehen — einem Attentat auf das Bildungsniveau kommender Generationen gleich, einem Attentat auf den Erfahrungsschatz mehrer Jahrtausende, auf die Fähigkeit unserer Kinder, sich in einer täglich komplizierter werdenden Umwelt mit Hilfe allgemeiner Prinzipien zurechtzufinden, auf ihre Fähigkeit zum kritischen Denken — und stellt damit letzten Endes den Fortbestand der demokratischen Regierungsform überhaupt in Frage. Was übrigbliebe, wäre eine leicht manipulierbare Masse Unerfahrener, deren praktische Kenntnisse gerade noch für die Bedürfnisse des Alltags ausreichen, eine mehr oder minder kopflose Schar industrieller Termiten, die gezwungen ist, ihren Leittieren blindlings zu folgen, weil sie selber ja täglich am Punkte Null der Menschheitsentwicklung beginnen müssen. Was wir besitzen, ist Vergangenheit; ihre Preisgabe wäre Verarmung ohnegleichen. Verarmt und hilflos stünden wir der Forderung gegenüber, unsere Zukunft zu gestalten — nach bestem Gewissen vielleicht, aber nicht nach bestem Wissen — um sie dem Schatz einzufügen, der uns hinterlassen wurde, damit wir uns seiner bedienen und nicht, damit wir ihn vergraben. Noch ist die Zukunft nicht unser, aber bald soll sie uns gehören, und sie wird uns gehören, wenn wir die Vergangenheit nicht vergeuden. Die Gegenwart aber ist ein gleitender Punkt, der sich mit Lichtgeschwindigkeit in der Vergangenheit entfernt. Auch unsere Gegenwart ginge verloren, wüßten künftige Forscher sie nicht zu finden. V

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