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Gott in Frankreich — heute

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Ein Student, aus der Hölle des Krieges zurückgekehrt, die Wüste und Zerstörungen Mitteleuropas furchtbar in Erinnerung, wird in die Lichterstadt Paris versetzt. Er kennt weder die Sprache, besitzt keine Beziehungen, ist allein auf sich gestellt, mit einem bescheidenen Stipendium versehen.

Sieht er die Gefahren, die in einer solchen Konzentration von Menschen liegen? Weiß er, daß zwei gewaltige politische Kräfte zum Endkampf um das Schicksal Frankreichs angetreten sind? Der Kommunismus, damals erste Partei des Staates, baute mit den bewaffneten Kadern, die aus der militärischen Widerstandsbewegung stammen, rücksichtslos die Positionen aus. In der Gewerkschaft CGT mit ihren Millionen Mitgliedern wurde eine Waffe geschmiedet, dazu bestimmt, das katholische und traditionelle, das bürgerliche Frankreich aus den Angeln zu heben. Dann würde der Rest Europas im stalinistischen Herrschaftssystem untergehen. Eine — heute darf man es feststellen — Entscheidung von welthistorischem Charakter bahnte sich an.

Der einzige Damm gegen diese Sturmflut wurde ebenfalls von Kräften der Widerstandsbewegung gebildet. Die jungen Mitglieder der katholischen Organisationen standen auf, getreu den Verpflichtungen eines Marc Sangniers, Kirche und Staat, die Revolution 1789 mit dem Streben nach einer echten Demokratie zu versöhnen, die ihren Akzent auf den Menschen, seine Würde und Freiheit, legte. Während der glorreiche Chef des Krieges mißgestimmt zurücktrat, wuchs die Partei der Treue, wie sich die französischen Volksrepublikaner bezeichneten, zur eigenen Verantwortung. Sie glaubten revolutionär zu operieren, obwohl die Wähler in bürgerlichen Kategorien dachten und handelten. Sie bezeichneten ihre Position als links, was ein Bekenntnis zur modernen Demokratie einschloß. So verteidigten sie die soziale Gerechtigkeit, aber ihre Ideale und der großzügige Glaube zerbrachen an den harten wirtschaftlichen Tatsachen.

Aufbruch des MRP

In dieser Situation fand der erste große Kongreß des MRP nach dem Krieg statt. Die Katholiken des Landes suchten eine politische Doktrin. Die Fronten zwischen Klerikalen und Antiklerikalen waren aufgeweicht. Die katholischen Widerstandskämpfer versuchten, nach den Haßausbrüchen, die der Faschismus entfacht hatte, Versöhnung und Liebe zu predigen.

Eine gewaltige, eine einmalige Kundgebung! Niemals wurde später von einer politischen Partei eine solche echte Begeisterung erweckt, die in keiner Weise mit dem Rausch der Nationalsozialisten zu vergleichen ist. Dort zelebrierte eine durch psychologisch kluge Methoden auf gepeitschte Masse die Unfehlbarkeit der falschen Propheten. Hier in der Ausstellungshalle des Parks von Versailles demonstrierte der Wille freier Menschen, die eine Gemeinschaft der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleiches anstrebten. Die späteren Notabein der Vierten Republik zeigten damals den Schwung der Jugend, erweckten den Glauben und die Kraft, die sie in die Lage versetzte, den Gefahren im Staate Herr zu werden. Der Vorsitzende des obersten Rates der Widerstandsbewegung, Bidault, der unermüdliche Kämpfer gegen die Münchner Verträge, trat in das hellere Licht der internationalen Aufmerksamkeit.

Der nachdenkliche und ruhige Robert Schuman, der spätere Vater Europas, gab sich bewußt und überlegt. Sein Namensvetter Maurice Schumann, der Sprecher des freien Frankreich in London während des Krieges, feierte als Redner, von der Kraft der Worte mitgerissen, wahre Triumphe. In der Diktion fast überlegen, trat einer der bedeutendsten Redner Europas auf: Pierre Henri Teitgen, der den Straßburger Europarat später wesentlich beeinflußte. Wärmstens begrüßt entwik- kelte der Sprecher der Jugend seine Idee. Der Ideologe und Organisator einer Partei, welche die morschen Strukturen der Dritten Republik hmwegfegte, war Qortai, der stellvertretende Generalsekretär, Ausdruck einer Generation, die, am Kriege unschuldig, i’hn am stärksten erlitten hatte.

19 Jahre sind inzwischen vergangen. Seit langem führt Gortai, einst die Hoffnung seiner Partei, für seinen Schwiegervater die Geschäfte in einer Metallgroßhandlung. Die Volksrepublikaner wurden in der Tragödie des Kolonialkrieges aufgerieben. Aber die Erinnerung der seinerzeitigen Beobachter lebt fort.

Unter den Zuhörern saßen zahlreiche Priester, jene Gewissensträger der Kirche, die in den Bergen den Widerstandskämpfern als Seelsorger dienten. Sie widersprachen der hohen Hierarchie, die in traditionellen Bindungen der Legalität Petains folgte.

Ein Einsamer

Ein Priester fiel besonders auf, bärtig, Mein, asketisch, die Soutane mit unzähligen Orden geschmückt, glühende Augen, die Willenskraft und unbesiegbaren Glauben ausstrahlten. Niemand von den zahlreichen ausländischen Gästen kannte diesen Geistlichen. Er saß beinahe bewegungslos, manchmal kritzelte er Bemerkungen in sein Heft. Kollegial gegrüßt, erkannte die Versammlung in ihm deh Ausdruck einer Kirche, die, außerhalb der Arena des politischen Tagesstreites stehend, doch ihren Dienern gestattete, durch die Anwesenheit die Orientierung des französischen Katholizismus zu bestätigen. Dieser Mann verstand es später, sehr nachhaltig das Gewissen der Katholiken aufzurufen. Er wurde von den einen zeitweise als Scharlatan verurteilt, von den anderen beinahe als Heiliger verehrt. Sein Name stieg zu dem Symbol der Erneuerung des Katholizismus auf, der die Fabriken und Docks besucht, um aus Frankreich, einem Land der Mission, eine Region der Strahlung im Sinne einer weltoffenen Geistigkeit zu schaffen.

Abbé Pierre, der Apostel der Wohnungsuchenden, der Kämpfer gegen den großen Skandal der Vierten Republik, stellt den Typ des Priesters dar, der Frankreichs Kirche die Aufrichtigkeit und Stoßkraft verlieh. Die Probleme werden im Pastoralen Raum gedeutet, aber praktische Lösungen gesucht. Denn die Kirche Frankreichs zeigt viele Züge, so daß es schwerfällt, sie sofort zu finden.

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