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Leninismus mit verkehrten Vorzeichen in Polen

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Immer klarer wird es, daß der Tod Bieruts in Polen eine mächtige Bewegung ausgelöst hat, die zwar von den neuen Parolen des 20. Kommunistischen Parteitages in Moskau den Ausgang nahm und die sich in den Rahmen einer koordinierten, vom Kreml her befohlenen und von ihm gelenkten Schwenkung der sowjetischen Außenpolitik einfügen sollte, die aber in der größten der europäischen Volksdemokratien ihre besonderen Wege beschreitet. Mit elementarer Wucht wendet sich gegen den Polizeidruck, gegen jederlei Gleichschaltung der entfesselte Ingrimm der hier weit mehr als in anderen Satellitenstaaten den Kern der geistigen Führerschicht und der Leiter des Wirtschaftsapparates bildenden Menschen, denen die Freiheit das höchste irdische Gut scheint. Und d i e Männer am Steuer, die auf diesem Gebiet weit eher Zugeständnisse zu machen bereit waren, als auf dem der, nach wie vor an die UdSSR gebundenen äußeren oder auf dem der, auf Sozialismus festgelegten, wirtschaftlichen Politik, sie beeilten sich, die im Grunde auf Lockerung der Abhängigkeit von der Sowjetunion und auf umfängliche Rückkehr zur Privatwirtschaft abzielenden Strömungen dorthin abzulenken, wo sie sich an für das Regime weniger gefahrlichen sturzbereiten Institutionen und an gerne geopferten Sündenböcken austoben konnten.

Als positive Draufgabe bei derlei unter intellektueller Regie stattfindenden Volksbelustigungen wurden zwei große Schaustücke gewährt: die Wiederbelebung eines Parlamentarismus im halbwestlichen Stil und die Erlaubnis, Unzufriedenheit in Wort und Schrift zu bekunden. Vom 23. zum 28. April tagte der Sejm, das Einkammerparlament. Die Abgeordneten überboten einander an scharfen Reden; Metboden, Ergebnisse und Ziele der Regierung wurden getadelt. Einzelne Minister und deren Hauptmitarbeiter waren Gegenstand lebhafter Angriffe. Darüber hinaus wagten es die bisher gleich ihren Kollegen aus den zugelassenen großen Parteien — der marxistischen PZPR, der agrarischen Volkspartei und dem für die Intelligenz sowie für die Lieberreste der Privatwirtschaft reservierten SD — nur zum Jasagen bei stets einstimmigen Sejmbeschlüssen befugten fünf katholischen Mandatare, offen an einer Grundlage des gesamten Kurses, an der Bindung an den materialistischen Marxismus, Kritik zu üben und gegen eine der Regierungsvorlagen, über Unterbrechung der Schwangerschaft, zu votieren. In vieler Hinsicht schien das Unterste zu oberst gekehrt. Während sonst die Minister sich kaum um die Abgeordneten kümmerten und diese vor ihrer eigenen, nicht vorhandenen, Courage zitterten, saßen jetzt die Ressortleiter samt ihren Stellvertretern nervös und verängstigt da. in steter Sorge vor den Folgen, die ein Angriff im Sejm zeitigen würde.

Derlei Angst war nicht unbegründet. Unmittelbar vor dem Zusammentritt des Parlaments und während der Session sind nicht weniger als acht Minister ihres Amtes enthoben worden, die einen schonend und ehrenvoll, die anderen ohne tröstendes Beiwerk. Der gefürchtete Generalprokurator Kalinowski wurde entlassen, der in seiner fast unumschränkten Machtbefugnis die Verantwortung für die nun eingestandenen Rechtsbrüche, für unbegründete Verhaftungen und für großenteils auf gefälschten Dokumenten fußenden Verurteilungen trug. Das strafende Schwert einer späten Gerechtigkeit kehrte sich vor allem gegen die Geheimpolizei. Der unheimliche Radkiewicz, den man zunächst ins Staatslandwirtschaftsministerium abgeschoben hatte, mußte nun auch dieses Portefeuille abgeben. Wird er nicht zuletzt noch das Los seiner beiden Haupthelfer teilen, des schon vor einiger Zeit zu langjährigem Kerker verdammten RÖZaflski und des Ende April hinter schwedische Gardinen gebrachten einstigen Vizeministers für Sicherheit Romkowski? Sehr schlichten Abschied erhielt auch der Vizeminister für Justiz Ciesluk, der seinem Ressortchef, dem besonders verhaßten Swiatkowski, in die Versenkung folgt. Schließlich wurde der nach Radkiewicz mit der Leitung der Polizei betraute Vizeministerpräsident Dworakowski, „im Hinblick auf seinen geschwächten Gesundheitszustand“ seines Postens entbunden. Die neuen Lenker des Sicherheitsdienstes — Generalprokurator und Vorsitzender des Sicherheitsausschusses — werden eine schwere Aufgabe haben, einem nur an Hydrahäuptern, nicht aber an Gliedern zu erneuerndem Monstrum mildere Sitten beizubringen. Eher wird die bisherige Sekretärin des Obersten Gewerkschaftsrates Wasilkowska ihre unbezweifelbare Begabung und Energie als nunmehriger Justizminister erproben können.

Von außerordentlicher Bedeutung ist der Wechsel in den beiden wichtigsten Kultur-rcssorts. Der Minister für Kultur und Kunst Sokorski wurde von einer Flut des gegen sein System brandenden Zorns der Geistigen hinweggefegt. Ob man aber erwarten darf, daß fortan die jedes freie Schaffen abwürgende Gleichschaltung der Literatur und der Künste auf ein unter den gegebenen Verhältnissen erträgliches Mindestmaß gesenkt werden wird? Der neue Ressortchef Kurflak hat vor Jahren als Chefredakteur des „Odrodzenie“ Beweise großer Lln-Voreingenommenheit, vor allem gegenüber katholischen und überhaupt gegen nichtmarxistischen Schriftstellern geliefert, er war ein vortrefflicher Journalist und er hat sich im Verlagswesen bewährt. Die Freude über seine Berufung wird indessen stark durch die Ernennung Professor- Zölkiewskis zum Hochschulminister beeinträchtigt, der den ins Außenministerium übersiedelnden Rapacki ablöst. Zölkiewski ist ein gar kämpferischer Verfechter des Leninismus, auf dessen Theorien er bereits als die Literaturhistoriker und die Kritiker gleichschaltender Mitdiktator neben dem jetzt auf die angenehme Sinekure eines Präsidenten des Rundfunks abgeschobenen Soborski wirkte. Derlei scharf profilierte Persönlichkeiten auf entscheidenden Positionen des Geisteslebens bestätigen in noch höherem Grade als dies die nicht sehr überzeugenden Bekenntnisse zum reinen Leninismus des wendigen und grundgescheiten Ministerpräsidenten Cyrankiewicz tun, freilich in ähnlicher Weise wie mehrere Reden des Nachfolgers Bieruts als erster Parteisekretär, Ochab, und wie die programmatische offizielle Erste-Mai-Rede des neuerdings in den Vordergrund gerückten vierten Parteisekretärs Gierek — sie bekräftigen die Ansicht, daß die „Demokratisierung“, die Säuberungen und die Personalveränderungen in Polen die beiden Eckpfeiler des Systems — bedingungslose Abhängigkeit von Moskau in der Außenpolitik, auf allen Gebieten alleinherrschender Marxismus in dessen, jeweils vom Kreml bestimmten, leninistischer Auslegung — unberührt gelassen haben. Man hat nur die Vorzeichen verkehrt.

So ist es von begrenzter Bedeutung, wenn jetzt auf Grund einer Amnestie 30.000 Menschen aus den Gefängnissen entlassen und wenn Tausende falscher Ankläger, sadistischer Polizeisbirren, unwürdiger Richter in ebendiese Gefängnisse gesperrt werden, wenn man sich um gläubige Katholiken und andere Nichtmarxistcn bemüht, wenn Literaten und Künstler sich weidlich ausschimpfen dürfen, ja wenn sich sogar die streng behüteten Staatsgrenzen nun nach innen und nach außen öffnen. Denn ein Wink aus Moskau genügt jederzeit, um das alles rückgängig zu machen, um die heute Gebietenden ihrerseits als Abweicher von der nächsten Generallinie zu prozessieren. Und die Rehabilitierung vieler Unschuldiger erinnert nur daran, daß eine künftige Wendung wiederum mancherlei Unrecht einzugestehen haben wird. Nicht an Menschen und Methoden, sondern am System selbst müßte sich Wesentliches wandeln, sollte in Polen wirklich eine der gesamten Nation genehme Ordnung herrschen.

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