6710900-1964_20_06.jpg
Digital In Arbeit

Geistige Kämpfe in Polen

Werbung
Werbung
Werbung

Lesen wir zunächst einmal in den „Thesen“, die das Zentralkomitee der PZPR auf seiner den kommenden Parteitag vom 15. Juni 1964 vorbereitenden Session am 15. März beschlossen hat: „Die friedliche Koexistenz der Staaten mit voneinander verschiedenen Systemen, die wir erstreben, verleiht dem ideologischen Kampf eine besondere Bedeutung. Es- kann keine friedliche Koexistenz zwischen sozialistischer und bürgerlicher Ideologie geben ...“ Indem sie unterstreicht, daß die Partei sich für den Inhalt der nationalen Kultur verantwortlich fühlt, „stellt sie unter anderem fest: Wir wünschen, daß Polens Literatur und Kunst, im Einklang mit ihrer Uberlieferung, der nationalen Sache und dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, am Kampf derer teilnehmen, die in Polen den Sozialismus aufbauen. Wir brauchen keinen wohlfeilen Optimismus, noch ein lackiertes Abbild der Wirklichkeit. Uns tut Lebenswahrheit not, die vielfältig ist und tief, allseitig vom sozialistischen Humanismus durchdrungen. Dagegen erblicken wir keinen Platz für Dichtungen und Theaterstücke, deren ideologische und sittliche Tendenz („wy-mowa“, wörtlich: Ausdrucksweise) gegen den Sozialismus gerichtet ist.“ In der „Kultura“, einer der drei großen zugleich politischen und dem geistigen Leben gewidmeten Zeitschriften des Regimes, erklärt zwei Wochen später der linientreue Schriftsteller Bohdan Czeszko: „Die polnische Kulturpolitik ist nicht dazu da, um utopische Forderungen nach absoluter Freiheit zu erfüllen, sondern die historischen Bedürfnisse der Nation. Unserer Ansicht nach ist kein Platz vorhanden für Bücher und Bühnenwerke, deren ideologischer und sittlicher Inhalt gegen den Sozialismus gerichtet ist“ (ut supra).

Niemand, der nicht ein „gelernter Pole“ aus dem eine fünfstellige Zahl umfassenden Kreis der Eingeweihten ist — zu dem keineswegs nur Regierungsanhänger gehören —, könnte sich aus den eben zitierten beiden Texten ein Bild davon machen, warum diese im üblichen Parteijargon abgefaßten Feststellungen nur zu wohl oder übel bekannter Tatsachen gerade jetzt so nachdrücklich unterstrichen wurden. Doch jeder aus der viel breiteren Schicht der durch lange schmerzliche Erfahrungen zum Zwischen-den-Zeilen-Lesen Geschulten ahnte sofort, daß etwas geschehen war. Etwas, von dem die auswärtigen Zeitungen bereits Ende März, freilich nur verschwommen, berichtet hatten und worüber bis Ende April keine Zeile in irgendeiner polnischen Tageszeitung, ja nicht ein Sterbenswörtchen zu entdecken war, bis dann die zweite offiziöse Kulturzeitschrift „Polityka“ die ganze Geschichte in der Form polemisch erzählte, in der die polnische Öffentlichkeit davon Notiz nehmen sollte. Hier nun der objektive Sachverhalt:

i Das Herannahen der 15. Session des Zentralkomitees der PZPR hatte eine Anzahl führender Persönlichkeiten des geistigen Lebens veranlaßt, in einer vom 14. März datierten und sofort nach Schluß der Session des ZK der PZPR Cyran-kiewicz übermittelten Denkschrift die bedrängte Lage der Wissenschaft, der Dichtung und der Künste zu schildern, die von der Parteibürokratie schikaniert, auf dem Weg über die Papierzuteilung an die durchweg staatlichen oder vom Staat abhängigen Verlage an der Leine gehalten wurden, die sich über ihre Vorlesungen, ihre Werke Abkanzlungen seitens nicht immer das Niveau eines Hochschulstudenten besitzenden amtlichen Oberaufsehers gefallen lassen mußten und die sich auf die Zusagen schöpferischer Freiheit In jenem Oktober 1956 beriefen, als Gomulka, wesentlich getragen von der geistigen Elite der Nation, die Macht übernommen hatte.

Es war zweifellos gezielte Bosheit, daß die Denkschrift nicht der PZPR sondern der höchsten staatlichen Stelle, nämlich dem Erstminister Cyrankiewicz, übergeben wurde, der ja nach den Buchstaben der Verfassung die oberste Verwaltungsinstanz verkörperte. Daß er, der Nachkomme großbürgerlicher und adeliger Ahnen, zwar Parteimitglied einer der sieben noch Übriggebliebenen der obersten Parteibehörde, des Politbüro, war, änderte nichts an der Tatsache, daß er wie seine ihm durch die Herkunft nahestehenden Genossen in diesem Areopag, Außenminister Rapacki und Wirtschaftslenker Jedrychowski, nach wie vor seitens der weniger feingebildeten Kollegen mit Unbehagen und Mißtrauen betrachtet werden, daß Rapacki, als Diplomat so hervorragend, und Jedrychowski, der glänzende Wirtschaftspolitiker, in Parteiangelegenheiten und für die Gesamtrichtung der PZPR fast nichts zu sagen haben und daß Cyrankiewicz an faktischer Macht weit hinter den immer mehr vorwärtsdrängenden sogenannten „Partisanen“ und anderen jüngeren Scharfmachern zurücksteht. Ihm konnte die Petition nur die größte Verlegenheit bereiten. Er hüllte sich zunächst in Schweigen.

Um so lebhafter waren die Debatten im Kreise der Parteiführung. Die „Harten“ wollten von keiner Rücksicht auf Alter, internationalen Ruf, Leistung der Unterzeichner der Denkschrift das Leiseste wissen und verlangten exemplarische Strafen: Entfernung der Professoren von den Lehrkanzeln, Schreib- oder Ausstellungsverbot für Dichter und Künstler, die dadurch finanziell vernichtet worden wären. Dem widersetzten sich mit anerkennenswertem Nachdruck die Einsichtigeren, die als äußeres Argument hauptsächlich den Eindruck im Ausland und in allen geistig gehobenen Schichten, auch bei den Kommunisten, des Inlands in die Waagschale warfen, doch ohne Zweifel innerlich den in ihrer großen Mehrheit weltanschaulich weit links Stehenden, ja sogar einst Parteimitglieder Gewesenen Recht gaben. Um diesen tapferen Befürwortern der relativen Gedankenfreiheit nicht zu schaden, dürfen wir keine Namen nennen. Jedenfalls ist es ihnen geglückt, sicher nicht ohne Beistand Cyrankiewiczs und Kliszkos, das Ärgste zu verhüten.

In der offiziösen Meldung von Anfang Mai hieß es, nachdem bereits vorher den auswärtigen Korrespondenten mitgeteilt worden war, daß den Unterzeichnern der Petition nichts Ernstliches drohe, man könne ruhig über die konkreten Fragen sprechen, um die es den 34 gehe. Doch Illusionen wurden von vornherein durch denselben Artikel der „Polityka“ zerstört, der offensichtlich das Ergebnis eines Kompromisses innerhalb der PZPR darstellte.

Die Unterzeichner der Denkschrift wurden als „eine private Gruppe von Staatsbürgern“ bezeichnet, die „in ihrer Mehrheit achtenswert und verdient um Polens Kultur und Wissenschaft seien“. Doch habe „der Schöpfer nicht alle Menschen mit gleichviel politischem Verstand bedacht“. Derlei Verstand, der bekanntlich „stets bei Wen'gen nur gewesen“ und ist, den haben allein und offenbar mit ganz großen Löffeln einzig die derzeitigen Staatsdas heißt Parteilenker der Rzecz-pospolita Ludowa gegessen. „Das Auftreten bestimmter Unterschiede in den Ansichten zwischen der politischen Parteiführung und den geistig Schaffenden ist ein verständliches Phänomen. Die politische Parteiführung und die Regierung tragen die Verantwortung für die Gesamtheit der Angelegenheiten von Nation und Staat... Die Verantwortlichkeit des Schriftstellers ist vor allem moralischer Natur, sein Gesichtskreis ist enger, sein Wissen über die gesellschaftliche, wirtschaftliche Lage ist fragmentarisch und mitunter beschränkt auf den Umkreis eines Kaffeehauses oder einer literarischen Koterie ...“ Wenn nach diesen Sätzen gnädig hinzugefügt wird, es sei einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation denkbar, allerdings in erster Linie nicht vom Standpunkt der geistigen Freiheit der Schaffenden aus, sondern von dem ihrer Verpflichtung, für die Massen zu produzieren und sich den neuen Kulturgegebenheiten anzupassen, dann ist man wieder an jenen Punkt zurückgekehrt, von dem die Denkschrift der 34 und das gigantische, nicht etwa Mißverständnis, sondern Einander-nicht-verstehen-Können zwischen den urecht kommunistischen Machthabern einerseits und den ihnen kraft Abkunft, Erziehung, Bildung, wirklichem geistigen Horizont konträren Wissenschaftlern, Dichtern, Künstlern, angelangt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung