6564290-1949_29_03.jpg
Digital In Arbeit

Macht und Mittel der Propaganda

Werbung
Werbung
Werbung

Bis zum Jahre 1945 war die „Zeitungswissenschaft“ an ungefähr fünfzehn deutschen Universitäten und Hochschulen durch Lehrstühle, Dozenturen und Institute vertreten. Nach 1945 erlag die Disziplin einem beinahe völligen Absterben.

Inzwischen wird die Zeitungswissenschaft in Westdeutschland vor allem durch drei Männer repräsentiert, von denen zwei, Emil Dovifat, Berlin, und Karl d’E ster, München, längst über ihr Gebiet hinaus als internationale Autoritäten gelten. Zu ihnen trat W alter Hagemann, Ordinarius in Münster, und heute der aktivste Autor unter den wenigen schöpferischen Pressekritikern Deutschlands.

„Jedes wissenschaftliche Vorhaben sollte in der gegenwärtigen Notzeit nicht allein aus dem forschenden Drange nach der Wahrheit, sondern zugleich aus den Anforderungen des täglichen Lebens gerechtfertigt werden.“ Dieser Satz steht im Vorwort des großen Werkes von Walter Hagemann, das er „Publizistik im Dritten Reich, Ein Beitrag zur Methodik der Massenführung“‘, nennt. Mit seinem Gedanken verficht er eine These, die für die deutschen Universitäten und Schulen beherzigenswert wäre … An ihnen neigt man dazu, vor allem in den seit Jahrzehnten vielleicht aus diesem Grunde in den Augen der Allgemeinheit verblassenden Geisteswissenschaften, für vornehm und vornehmbar nur das zu halten, was wenig Beziehung zur Gegenwart hat. Hagemanns Werk „Publizistik im Dritten Reich“ (516 Seiten, Hansischer Gildenverlag, Joachim Heitmann & Co., Hamburg-Wandsbeck) kommt anderes Gewicht zu.

Hagemann hält, was er verspricht. Er gibt eine übersichtlich gegliederte, lückenlos authentische Darstellung der Führung der öffentlichen Meinung innerhalb Deutschlands und seiner zeitweiligen Satelliten von vor 1933 bis 1945. Unter Einbeziehung sämtlicher in- und ausländischer Quellen seit 1919 und der gesamten neueren, hauptsächlich ausländischen Literatur über Männer und Mittel der Presse, des Films, des Funks, des Theaters und des Verlagswesens innerhalb des Dritten Reiches unternimmt Hagemann eine erste, aber gründliche Expedition in die Propaganda und ihre Bereiche zur Untersuchung ihrer Technik, ihrer Methode, wie sie zwölf und einhalbes Jahr in Deutschland dominiert hat.

Manchem Leser wird das als ein Ausflug in die Hexenküche (ins Propagandaministerium) und zum Hexenmeister (zu Goebbels) Vorkommen, der ihn nachträglich staunen macht: ob der Konsequenz, mit der nicht nur diktatorisch regiert, sondern ebenso diktatorisch nachrichten- und meinungsgemäß geführt wurde.

Seinem Werke hat Hagemann mit Recht den Untertitel „Ein Beitrag zur Methodik der Massenführung“ gegeben. Von der ersten Nummer des „Völkischen Beobachters“ bis zur letzten Nummer des „Pan- zerbärs“, der späten Zeitung des belagerten Berlins, folgt er Schritt um Schritt, Meldung um Meldung, Nachricht um Nachricht und Lüge um Lüge, dem Aufbau, dem scheinbaren Triumph, dem niemals zugegebenen Niedergang und der Auflösung ins Nichts, wie sie das System der ungeheuerlichen Bevormundung durch diese Propaganda gezeigt hat. Diese Vormundschaft erfaßte keineswegs nur das deutsche Volk, sondern über ein Jahrzehnt hinweg auch das Ausland durch Hitler und sein Mundwerk Goebbels. Schließt man sich der Zeichnung Walter Hagemanns Zeile um Zeile an, so konstatiert man, daß der Apparat zwar riesig und die Zentrale ungeheuer aufgebläht war …, daß es aber in Wirklichkeit stets nur zwei Männer waren, die gelenkt haben. Es waren Hitler, der die Richtlinien gab, und Goebbels, der sie zu Sprachregelungen und Tagesparolen formulierte, nach denen alles ohne Ausnahme zu tanzen hatte und sich zu Tode getanzt hat: bei besserer Einsicht und wider Willen.

In seinem bei aller Nüchternheit erregenden Werk enthüllt Hagemann das Wesen „Totalitärer Publizistik“. Ein aktuelles Kapitel, wie die täglichen Prdpagandafeldzüge zwischen Ost und West belegen. Er zeigt den „publizistischen Lenkungsapparat“, der durch einen Druck auf den Knopf funktionierte. Vom Zeilensatz bis zum Marschrefrain reflektierte alles ein einziges Heil, das vom Reichstagsbrand bis zur Meldung vom „Heldentod“ des Führers und der Führerbraut pausenlos ertönte.

Dieser fabulose Apparat war nicht 1933 von gestern auf heute einfach da, er resultierte vielmehr aus längst trainierten Gepflogenheiten, die durch die „Lehre“, durch den „Appell an die Massen“ mit den schmeichelnden oder sie einschüchternden Motiven seit 1921 und 1923 von der NSDAP erprobt oder ausländischen Vorbildern nachgeahmt worden waren. Zweifellos hat die publizistische Technik im Dritten Reich seltene Feinheiten dank ihrer Raffinesse und Höhepunkte, dank der Skrupellosigkeit ihrer Anwendung erreicht.

Besondere Aufmerksamkeit hat Hagemann der „Publizistik im Kriege“ gewidmet, den Techniken zur Erhaltung und Hebung der Kriegsmoral. Alles, was wissenschaftlichen Betrachtern auffällt, ist wieder bekannt aus anderen Kriegen, ist notorisch seit Jahrtausenden, wie etwa des Wiener Historikers Wilhelm Bauer zusammenfassende Werke zur „Geschichte der öffentlichen Meinung“, längst gezeigt haben. Ungewöhnlich war von 1933 biy 1939 und erst recht von 1939 bis 1945 nur die Pausen- losigkeit, mit der der publizistische Betrieb derart auf Touren lief, daß er den Krieg tatsächlich bis zur totalen Kapitulation und über sie hinaus verlängerte. Ohne Goebbels wäre Hitler früher am Ende gewesen, das ist eine der Lehren, die das Buch nebenher erbringt.

Zwischen seinen Ausführungen, die auf unwiderlegliches Material, auf Zeugnisse aus erster Hand und seinem wissenschaftlichen Apparat gestützt sind, hat Hagemann eine Zeittafel gehängt. Sie ist während der Lektüre fortgesetzt aufzublättern: zur Stärkung des Gedächtnisses. Es mag geschehen, daß besonnene Leute heute noch nicht glauben können, wie fabelhaft und glaubhaft gelogen wurde. Die Lüge hatte, nicht nur im Dritten Reich, einen unwahrscheinlichen Grad von Wahrheitsgehalt, das lehrt dieses Buches Lektüre sogar Menschen, die „nicht im Leben stehen“.

Da sich in dieser Studie alle Ereignisse zwischen 1933 und 1945 in ihrer publizistischen Erscheinung und Auswertung spiegeln, hat Hagemann eine Geschichte jener Zeit geschaffen. Vermutlich hat er das nicht gewollt. Gerade deshalb steht sie dank ihrer skeptischen Gelassenheit hoch und gültig über der üblichen Nachkriegsliteratur seit 1945. Es ist ein unpolemisches Werk übeir eine Materie, um die noch jahrzehntelang polemisiert werden wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung