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Tragödie am Rhein

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Stahl und Kohlechemie, bekanntlich zwei der wichtigsten Zweige moderner Industrieentwicklung, sind die tragenden Grundpfeiler des „Reviers“, des rheinisch-westfälischen Industriegebietes. Neueste, größte und leistungsfähigste Werke dieser Art werden nach jüngsten alliierten Entscheidungen jetzt demontiert. So auch die August- Thyssen-Hütte -in Duisburg-Hamborn.

Das weltbekannte Werk zeichnet sich durch seine modernen Anlagen, durch höchste technische Leistungskraft, vorzüglich funktionierendes verbundwirtschaftliches Zusammenspiel aller mit der Erzeugung von Rohstahl befaßten Produktionsstufen und durch seine günstige Verkehrskge aus. Die Hütte mit ihrem eigenen Hafen liegt unmittelbar am Rhein. Kohle und Koks finden sich sozusagen auf dem Werksgelände; Zechen und Kokereien arbeiten neben den Werkshallen.

Die August-Thyssen-Hütte produzierte vor dem Kriege jährlich rund 2,3 Millionen’ Tonnen Ruhrstahl. Der direkten Rüstungsfertigung hat die Hütte nicht gedient; sie belieferte vornehmlich die Reichsbahn und die Elektrotechnik. Das Unternehmen trug Kriegsschäden davon. Aber es könnte nach einer Reparatur von nur etwa acht Monaten Dauer immerhin wieder gegen 1,2 Millionen Tonnen Stahl liefern. Diese fast einzigartige Produktionsstätte soll nun niedergerissen werden — und in einem Augenblick, da für die Steigerung der Kapazität in anderen europäischen Ländern viele Dollarmillionen fließen. Freilich verlautet, das Musterwerk wirtschaftlich günstiger Eisengewinnung werde nach gewisser Zeitspanne an anderer Stelle wiederaufgerichtet, aber das würde eine Bauzeit von sieben Jahren und einen Kostenaufwand von 300 Millionen D-Mark erfordern. Ob das jemandem nützen würde, scheint fraglich.

Was für die August-Thyssen-Hütte gilt, ließe sich ähnlich von den anderen zu demontierenden Werken sagen. Das Bo- chumer Hochfrequenz-Tiegelstahlwerk der Edelstahlwerke Krefeld, das Gußstahlwerk des Bodiumer Vereins, das Kaltwalzwerk der Hoesch A. G. Hohenlimburg, das Werk Düsseldorf der Kloeckner A. G. sind bedeutsame Schlüsselwerke für den Export, Stätten besten Industriefleißes, auf die Westdeutschland nur unter Hinnahme schlimmer Auswirkungen verzichten kann. Der Oberbürgermeister von Duisburg gab bekannt: Wenn die 13.000 Beschäftigten der August-Thyssen-Hütte arbeitslos werden, dann wird praktis cheineganze Stadt arbeitslos, nämlich Hamborn mit

100.0 Einwohnern. Für Duisburg aber entstehe ein Steuerausfall von jährlich 4 Millionen D-Mark, das jährliche Lohnaufkommen verringere sich um 30 Millionen D-Mark. Die Demontagekosten belaufen 6ich auf 65 Millionen D-Mark, von denen nur 40 Millionen D-Mark als Reparation angerechnet werden. Demnach gehen 25 Millionen D-Mark verloren und dazu der technische Nutzungswert der Hütte, der

370 Millionen D-Mark beträgt. Die Thyssen- Hütte bildet in normalen Zeiten etwa 500 Jugendliche im Jahr aus und bot ihnen damit Aussicht auf gute Existenz. Der Direktor der kaufmännischen Schulen Duisburgs machte die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, daß nidit nur die Ausbildungsund Arbeitsplätze in diesem Werk verlorengehen, es schrumpfen gleichzeitig auch die zahlreichen Betriebe ein, die von der Hütte abhängen. Ähnliche Notstände treten in den Städten Bochum, Essen, Wattenscheid Wanne-Eickel, Witten, Hattingen und anderen mehr ein. Daß unter diesen Umständen in Nordrhein-Westfalen, wo allein

11.0 Schwerbeschädigte Arbeit suchen, die Arbeitslosigkeit wächst, dürfte einleuchten.

Das räumte selbst der Gouverneur von Nordrhein-Westfalen, General Bishop, im Zusammenhang mit der um die Junimitte aufgenommenen Demontage von neun Werken der westdeutschen synthetischen Industrie, vor allem der Kohlenveredlung, ein. Immerhin ist dies nur der jüngste Sorgenkomplex an Rhein und Ruhr, und wer bedenkt, daß die deutschen Bischöfe sich von Paderborn aus an die Alliierten wandten, daß Kardinal Frings die Gläubigen seiner großen Erzdiözese Köln zum Gebetstag aufrief, daß die evangelische Kirche die Kirchen Englands und Amerikas um Schritte bat, vermag die Ausmaße des Komplexes erkennen. Nun sind in einigen der überprüften Werke die Demontage- arbejter eingerückt, allerdings erst, nachdem der passive Widerstand der Belegschaften durch ein scharfes Ultimatum des Gouverneurs und — in den chemischen Werken Bergkamen — durch den Aufmarsch belgischer Panzerformationen „gebrochen“ war.

Schon zeichnen sich schwere Störungen wirtschaftlicher Natur als Folge dieser Maßnahmen ab. Nach einwandfreien Feststellungen, die der Vorsitzende der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, Direktor Barich, machte, wird die deutsche Eisenindustrie in kurzer Zeit nicht einmal mehr auf dem innerdeutschen Markt konkurrieren können. Das Ausland macht dagegen alle Anstrengungen, Produktion und Produktivität zu erhöhen. Daß die deutsche Industrie auch auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig ist, bewiesen die letzten internationalen Messen, insbesondere die Industrieschau in New York; die deutschen Erzeugnisse liegen bei guter Qualität vielfach erheblich über den Weltmarktpreisen, Wie die Eisenindustrie, so benötigt auch der Bergbau Milliardenkredite, um Erneuerungen vornehmen und die Kapazität steigern zu könnet). Zwar sollen hohe Summen in Kürze in die Industrie einfließen, kündigte der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Prof, Dr. Erhard, soeben an. Was werden sie fruchten, wenn im selben Augenblick die Fundamente der Rhein-Ruhr-Industrie ins Wanken geraten?

Weit schlimmer wirkt das alles jedoch im Bereich des Sozialen und Politischen. Der Arbeiter und der kleine Angestellte fühlen sich durch die letzten Entscheidungen in ihrem Lebensnerv getroffen. Sie begreifen niemals, daß ihre Arbeitsstätten vernichtet werden, während die ganze Welt nach Aufbau ruft, während in Japan jede Demontage eingestellt worden ist, zumal sie ihre Werke nicht als Rüstungspotential betrachten können. Sie sehen sich wachsender Not gegenüber, der sie zwangsläufig erliegen müssen. Was schert sie da Bundesrat, Streiterei um Wahlgesetz, Demokratie, Ministerkonferenzen, Europabewegung! Alle politischen Vorgänge in Bonn, Berlin, Paris oder wo immer, mögen sie Deutschlands künftiges Geschieh noch so sehr berühren, werden an Rhein und Ruhr wenig beachtet. Die volle Aufmerksamkeit gehört dem traurigen Schicksal der Arbeitsstätten fleißiger Menschen.

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