DIE KRÄNKUNG als ewig lauerndes Tier

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Kein Streit, kein Amoklauf und auch keine Briefwahl-Verschwörungstheorie kommt ohne das Gefühl aus, dass einem schlimmes Unrecht geschah. Über die Macht der Kränkung - individuell und kollektiv.

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Kein Streit, kein Amoklauf und auch keine Briefwahl-Verschwörungstheorie kommt ohne das Gefühl aus, dass einem schlimmes Unrecht geschah. Über die Macht der Kränkung - individuell und kollektiv.

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Herbert Kickl hatte es geahnt: Schon einen Tag vor der Bundespräsidenten-Stichwahl am 22. Mai stellte er vorsorglich die Frage in den Raum, ob bei der Verschickung und Auszählung der rund 885.000 Briefwahlkarten tatsächlich dem Wählerwillen entsprochen werde -"oder ob Helfershelfer des gegenwärtigen Politsystems hier vielleicht die Gelegenheit nutzen könnten, dem Wählerwillen zugunsten des Systemrepräsentanten Van der Bellen 'nachzuhelfen'." Mehr hatte es bei jenen, die sich vom "System" schon lange betrogen fühlten, nicht gebraucht. Seither jagt in den sozialen Netzwerken eine Verschwörungstheorie die nächste, genährt durch tatsächliche punktuelle Ungereimtheiten, die am Wahlausgang freilich kaum etwas ändern dürften.

"Natürlich bin ich heute traurig", postete der knapp gescheiterte, freiheitliche Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer auf Facebook. Viele seiner Anhänger waren freilich noch mehr als das: Sie waren wütend und fühlten sich als Opfer. Die "Rhetorik der Kränkung", die "ein Kennzeichen rechter Politik" geworden sei, wie die Schriftstellerin Kathrin Röggla nach dem ersten Bundespräsidenten-Wahlgang im Falter schrieb, schien nach der Stichwahl umso stärker zu verfangen. Viele Hofer-Sympathisanten beließen es bei Unmutsäußerungen oder Manipulationsvorwürfen, einige riefen aber sogar offen zur Gewalt auf. Ein Wahlergebnis als kollektives Kränkungserlebnis?

Vom Kränken zum Krieg

Man könnte es so sehen. Wie groß die Macht der Kränkung ist, beschreibt der Vorarlberger Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller jedenfalls in seinem neuen, gleichnamigen Buch. Nahezu jedem menschlichen Problem liege ein Kränkungserlebnis zugrunde, behauptet Haller. Wobei sich bei "kollektiven Kränkungen" klassische, massenpsychologische Dynamiken zeigen. "Wenn sich durch demagogische Reden die emotionalen Spannungen einer kritischen Grenze nähern, können sich die vorherrschenden kollektiven Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster plötzlich sprunghaft verändern", erklärt der Psychiater. Das zeige sich "bei jedem Protest, bei jedem Fußballspiel, bei jeder politischen Versammlung und im Vorfeld vieler Kriege."

So weit wird es hierzulande hoffentlich nicht kommen. Wie Kränkungen kriegerische Auseinandersetzungen befördern können, zeigt freilich schon ein Blick in die griechische Mythologie: Homers Epos "Ilias" über den Trojanischen Krieg beginnt etwa damit, dass Eris, die Göttin der Zwietracht, als Einzige vom Olymp nicht zur Hochzeit des Helden Peleus mit der Göttin Thetis eingeladen wird, gekränkt einen goldenen Apfel mit der Aufschrift "für die Schönste" in die Hochzeitsrunde wirft - und dadurch einen erbitterten Streit zwischen der Göttermutter Hera, der Weisheitsgöttin Athene und der Liebesgöttin Aphrodite auslöst. Der Rest ist blutige Legende.

Aber auch die reale Historie ist voll Kränkungsgeschichten mit fatalen Folgen: Als Paradebeispiel für die Demütigungshypothese von Kriegen gilt dabei die "Schmach" durch die Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain, die den Verlierern des Ersten Weltkriegs horrende Reparationszahlungen abverlangten -und damit den Aufstieg jenes Diktators beförderten, der von tausendjähriger Weltherrschaft fantasierte. "Die größten politischen Verbrecher der Menschheit haben es immer schon verstanden, Gefühle der Demütigung zu instrumentalisieren", schreibt Reinhard Haller.

Gekränkte Verbrecher

Das ist nicht wirklich neu -ebenso wenig wie der Hinweis darauf, dass Kränkungen auch in Adolf Hitlers eigenem, emotionalem Werdegang eine große Rolle spielten: von der Kränkung durch den verhassten Vater bis zu seinen erfolglosen Künstlerambitionen. Überraschender ist freilich, dass dem Phänomen der Kränkung bislang in Wissenschaft und Kriminologie so wenig Beachtung geschenkt wurde, wie Haller betont -obwohl weitaus mehr Verbrechen subjektiven Kränkungserfahrungen geschuldet sind als Motiven wie Habgier oder Sadismus. Schon der erste Mord der Menschheitsgeschichte geschieht gemäß der Bibel aus Gekränktheit: Weil der Herr Abels Opfer wohlgefällig angenommen, aber jenes von Kain nicht beachtet hat, führt dieser seinen Bruder hinaus aufs Feld und erschlägt ihn. Die Gefühle Kains bezeichnet der Gott der Genesis als "lauerndes Tier", das dieser beherrschen solle. Allein, es wird ihm nicht gelingen.

Hätte aber jeder so wie Kain reagiert? Tatsächlich gehen menschliche Individuen höchst unterschiedlich mit Kränkungen um. Während sich manche schon durch die abwertende Geste ihres Gegenübers gekränkt fühlen, bleiben andere selbst von gröbsten Verspottungen scheinbar unberührt. Die Kränkbarkeit ("Vulnerabilität") hängt laut Haller von zahlreichen Faktoren ab: von der psychischen Konstitution ebenso wie von früheren Traumatisierungen, Geschlecht, Alter oder sozialem Umfeld. Menschen mit hohem Selbstwertgefühl sind pauschal gesprochen meist weniger leicht kränkbar, während solche mit Selbstwertzweifeln bzw. Hoch-oder Hypersensible anfälliger sind. Eine "geradezu krankhafte Kränkbarkeit" attestiert Haller Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die zugleich selbst meist ihre Mitmenschen entwerten.

Gekränkt wird jedenfalls oft und viel in Österreich: Allein am Arbeitsplatz fühlen sich drei bis fünf Prozent ernsthaft entwertet, beleidigt oder verleumdet; weitere 15 bis 20 Prozent sind solchen Malträtierungen ausgesetzt, ohne sich seelisch zermürbt zu fühlen. Auch etwa zehn Prozent der Schüler sind von Mobbing betroffen. Die extremste Form der Kränkung ist dabei die Demütigung, sie ist Entwertung, Verletzung, Beschämung und Diffamierung in einem. In virtualisierter Form -Stichwort Cybermobbing -geschieht sie zudem "vor der ganzen Welt und auf unbeschränkte Zeit", weiß Reinhard Haller. Das alles macht nicht nur krank, sondern womöglich auch kriminell: Im Extremfall setzen Menschen nach dem Motto "Einmal nicht nichts sein" ein möglichst großes Zeichen, das ihrer inneren Kränkung entspricht -und laufen Amok.

Zauberwort "Resilienz"

Doch es muss nicht so weit kommen: Kränkungen können auch konstruktiv bewältigt und damit entmachtet werden, betont der Psychiater. Das beginnt damit, "Lufthoheit über das Kränkungsgeschehen zu übernehmen", und führt am Ende im besten Fall zum Loslassen und Verzeihen. Noch besser wäre es, die psychische Widerstandskraft von vornherein zu stärken. Das Zauberwort in diesem Zusammenhang heißt "Resilienz", also das Aufbauen psychischer Schutzfaktoren, um Krisen zu meistern und als Anlass für persönliche Entwicklung zu nutzen: etwa durch eine selbstwertstärkende Erziehung, durch positive Erfahrungen und nötigenfalls durch Therapie.

Was es braucht, um die kollektive Resilienz gegenüber Verschwörungstheorien und rechtspopulistischen "Verstehern" zu erhöhen, ist in Hallers Buch hingegen nicht nachzulesen. Das muss die neue Regierung schon selber formulieren.

Die Macht der Kränkung

Von Reinhard Haller.

Ecowin 2015. 248 Seiten, gebunden, € 21,95

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