Erfurt Amoklauf - © Foto: dpa/dpaweb/dpa/Martin Schutt

Das Schulmassaker von Erfurt: Amoklauf Richtung Unsterblichkeit

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Erfurt, Nanterre, Zug: drei Stationen des Grauens, drei Gewalt gewordene Proteste gegen den Umstand, zu den Verlierern zu gehören.

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Erfurt, Nanterre, Zug: drei Stationen des Grauens, drei Gewalt gewordene Proteste gegen den Umstand, zu den Verlierern zu gehören.

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Einer seiner Wünsche wurde erfüllt. "Ich möchte, dass mich einmal alle kennen und ich berühmt bin", hat sich Robert Steinhäuser gewünscht. Nun, posthum, geht sein Name in die Annalen ein. Am 26. April, jenem Tag, an dem ihm seine Eltern noch viel Glück für die Mathematikmatura wünschen, betritt Robert gegen 10 Uhr 45 das Erfurter Gutenberg-Gymnasium.

In einer Toilette vermummt er sich mit schwarzen Kleidungsstücken als japanischer Ninja-Krieger und bewaffnet sich mit einer Pumpgun und einer Glock-Pistole. Zielsicher durchstreift er die Klassen. Eine halbe Stunde später, um 11 Uhr 30, sind 13 Lehrer, zwei Schüler, ein Polizeibeamter - und Robert selbst - tot.

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Ganz Deutschland steht unter Schock. Die Illusion vom schulischen Amoklauf als US-amerikanische Eigenheit ist endgültig dahin. Was aber hat dazu geführt, dass sich ein "auffällig unauffälliger" Jugendlicher in einen Killer verwandelt? War es falsche Erziehung? Waren es Gewaltvideos? Waren es die leicht zugänglichen Waffen des Hobbyschützen? Oder war es das ins Wanken geratene Lügengebilde, mit dessen Hilfe der 19-Jährige gegenüber seinen Eltern den Rauswurf aus der Schule - zwei Monate vor der Matura - verbarg?

Die Experten streiten, denn das Kategorisieren fällt diesmal schwer. Steinhäuser habe in geordneten Familienverhältnissen gelebt, stellte der Leiter der Polizeidirektion Erfurt, Rainer Grube, vor Journalisten fest. Seine "desaströse Persönlichkeitsentwicklung" sei weder für Familie noch für Mitschüler oder Lehrer absehbar gewesen.

Vergleichbarer Amoklauf von Richard Durn in Frankreich

Ähnliche Ratlosigkeit lähmte schon ein Monat zuvor ganz Frankreich. Schweigend hatte der 33-jährige Richard Durn am 27. März stundenlang der Ratssitzung in der Pariser Vorstadt Nanterre gelauscht. Kurz nach ein Uhr nachts, als die Bürgermeisterin die Sitzung schloss, zog der Sportschütze Pistolen und begann zu schießen. "Entschlossen und methodisch" brachte Durn acht Menschen um, bevor ihn beherzte Männer außer Gefecht setzten. Einen Tag später stürzte er sich während des Verhörs aus dem vierten Stock des Justizpalastes in Paris.

Aus welcher Pein Durn mit seiner Tat flüchten wollte, offenbarte ein 13-seitiger Abschiedsbrief. "Seit Monaten verfolgen mich Gedanken an Massaker und Mord", heißt es in dem Schreiben, das die französische Tageszeitung Le Monde am 10. April ihren entsetzten Lesern präsentierte. "Selbst wenn man mich verfluchen oder für ein Monster halten sollte, würde ich mich wenigstens nicht mehr erniedrigt fühlen."

Erfurt und Nanterre: zwei Katastrophen, eine Ursache? Wenn auch die Umstände verschieden sind, ortet der Wiener Psychotherapeut und Priester Arnold Mettnitzer doch Zusammenhänge: "In beiden Fällen handelt es sich um einen Aufschrei eines Gemeinschaftswesens, das im Moment alles, was man zu einem erfüllten Leben braucht, erfolglos sucht und eine Ersatzbefriedigung erträumt." In diesem Sinn seien Amokläufe als "angstgetriebener Versuch der Seele" zu sehen, nicht resignativ eingestehen zu müssen, dass man zum Kreis der Verlierer und Zu-kurz-Gekommenen gehört.

Kränkung als Ursache von Gewalthandlungen

Ausgangspunkt solcher Gewalthandlungen wie in Erfurt oder Nanterre sind in jedem Fall Kränkungen, ist der Psychiater Reinhard Haller überzeugt. "Meist haben solche Handlungen eine relativ lange Vorgeschichte. Nach einer Zeit der Zermürbung und des Anstaus von Frustrationsenergien kommt es dann zur explosiven Entladung." Menschen mit geringem Selbstvertrauen, die in ihrer Kindheit wenig Lob und Zuwendung erfahren hätten und ihre Gefühle nur schwer mitteilen könnten, würden schon von kleinsten Kränkungen nachhaltig getroffen.

Zum Akt der Rache kehren die Attentäter meist an den Ort der Kränkung zurück. So geschehen auch im schweizerischen Zug: Weil er sich von den Behörden hintergangen fühlte, hatte ein Amokläufer im September vergangenen Jahres elf Mitglieder des Zuger Kantonsrates und dann sich selbst erschossen.

Die Rache selbst wird in einem "unglaublichen Machtrausch" vollzogen, weiß Reinhard Haller: "Wenn erst einmal der erste Schuss abgegeben und die entscheidende Schwelle überschritten ist, fühlt sich der Amokläufer als Herr über Leben und Tod." Umso glücklicher sei die Reaktion des 60-jährigen Geschichtslehrers Rainer Heise gewesen, der den Erfurter Amokläufer mit Namen angesprochen und damit aus seinem Rauschzustand gerissen habe. "Dann war Robert ernüchtert - und entsetzt. Der Suizid war die logische Konsequenz", so Haller.

Wenn erst einmal der erste Schuss abgegeben und die entscheidende Schwelle überschritten ist, fühlt sich der Amokläufer als Herr über Leben und Tod.

Reinhard Haller, Psychiater

Dass gewaltverherrlichende Videospiele zur Nachahmung reizen, ist für den Experten unbestritten. Auch Arnold Mettnitzer ist von ihrer schädlichen Wirkung überzeugt. Eigentliche Auslöser seien sie freilich nicht: "Wenn die Seele kocht, finden die aufgestauten Aggressionen in solchen Gewaltszenarien eben ein wunderbares Schlupfloch." Robert Steinhäuser fand dieses Schlupfloch im Killerspiel "Counterstrike", bei dem feindliche Terroristen-Einheiten einander jagen - bis das Blut auf dem Bildschirm die Oberhand gewinnt. Verbote solcher Videos hält Mettnitzer im Übrigen für sinnlos. Wichtiger sei Aufmerksamkeit.

Vor allem in den Schulen ist mehr Sensibilität nötig, unterstreicht die Wiener Landesreferentin für Schulpsychologie, Mathilde Zeman. Doch die Ausgangsbedingungen seien alles andere als rosig. "Zur Zeit haben wir in Wien nur 25 Dienstposten. Hier besteht seit Jahren ein Unverhältnis." Der Bedarf an psychologischer Beratung steige kontinuierlich an. Größtes Übel sei die Angst vor Misserfolg. "Besonders fatal wird es, wenn die schulische Leistung gleichbedeutend wird mit der Gewissheit, akzeptiert zu sein", so Zeman.

Auch wenn Österreichs Schulen bisher von Katastrophen wie im deutschen Erfurt, im schottischen Dunblane (1996) oder in Littleton in den USA (1999) verschont geblieben sind: Zweifellos herrscht an den heimischen Schulen keine heile Welt. Umso größer sei die Aufgabe der Pädagogen, auf Verhaltensauffälligkeiten wie etwa den emotionalen Rückzug einzelner Schülerinnen und Schüler zu achten. "Der Lehrer kann nie ein Psychotherapeut sein, aber sensibel sein kann jeder."

Gänzlich zu verhindern sind Tragödien wie in Erfurt, Nanterre oder Zug freilich nie. Hier gibt sich Arnold Mettnitzer keinen Illusionen hin, habe man es doch immer wieder mit "Weltpremieren" zu tun. Was bleibt, sei Ohnmacht - und zugleich der Auftrag, die eigenen ungestümen Kräfte zu klären. Dass nämlich Sigmund Freud mit seinem Bild von der Seele recht behält, ist für Mettnitzer sonnenklar: "Wir alle sitzen auf einem Vulkan", zitiert er den Vater der Psychoanalyse. "Und diejenigen, die so tun, als wäre das nicht so, sind am ehesten davon bedroht, zerrissen zu werden."

Furche Dreieck

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