Kann die "eine Welt" werden?

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Überlegungen zu einem fruchtbaren Nord-Süd-Dialog

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Überlegungen zu einem fruchtbaren Nord-Süd-Dialog

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Soll die Welt eins werden? Einswerden unter Mc-Donald? Auf der einen Seite steht das Einswerden als Folge von Konsumdiktat. Auf der anderen Seite stehen die Worte des sterbenden Johannes XXIII.: "Ut unum sint!" ("Auf dass sie eins seien!"). Offenkundig gibt es solches und solches Einssein: das Einssein der Vereinnahmung und das Einssein mit sich und dem Nächsten als Basis von einem pluralen Miteinander.

Das Internet zeigt die Pole: Auf der einen Seite eine Vereinnahmung (ein Zugang ohne Werbegeprassel ist nicht möglich), auf der anderen Seite aber auch Chancen (China hinkt mit den Firewalls gegen Dalai-Lama-Webs immer nach.) Auf der einen Seite steht zumBeispiel die Vereinnahmung durch Spekulationstransfers (ganze Staatsbudgets werden stündlich digital über den Globus gejagt), auf der anderen Seite aber das Einswerden als eine "Pädagogik der Solidarität" (Freire).

* Mit "Dritte Welt" wurde eine (vergessene) Entsprechung zwischen der Situation der kolonialen Nachfolgestaaten und dem Dritten Stand Frankreichs transportiert. Dritte und Erste Welt sind nicht geographisch zu zirkeln. Es gibt die Erste in der Dritten und die Dritte in der Ersten Welt. Auch mit Nord-Süd und Ähnlichem sind wir noch in alte Ausdrücke verstrickt, neue werden erst mit neuen Haltungen geboren.

* Die eine, plurale Welt birgt unterschiedlichste Weltbilder. Das "Ganze" der Welt, bekannte, weniger bekannte, angenommene, verworfene, ersehnte und ins Exil geschickte Anteile von mir, von einem Gemeinschaftlichen, von Weltentwurf und -ziel, sind in sie eingezeichnet. Sie sind Versuche, mit Spaltungen (etwa hier Geist, dort Materie) nicht spaltend umzugehen, das "Eine" als eine Summe von Farben zu sehen. Weltbilder sind mit Gradl "Begriffskürzel für Zusammenhangsganzheiten innerhalb des noch unfertigen Ganzen". Indes haben Trennungslinien die Welt "übersichtlich" gemacht. "So müssen wir in den alten Kategorien der Dritten Welt stranden, weil wir viel zu viel einteilen und abgrenzen" (Imfeld). Rechtens ist deshalb ein Raum-Begriff zu fordern, der die eurozentrischen Begriffe ablöst.

Weltbilder sagen auch etwas über psycho-territoriale Räume aus. Sind nicht "Orte", wie der atomare Müll im besetzten Tibet, der saure Regen über dem Erzgebirge, der schwindende Regenwald in Malaysia, pestizid- und schwermetallverseuchte Landstriche in Kolumbien und in Sibirien, schmelzende Polarstriche, Denklandschaften (wie Silicon Valley und Berkeley), elektronischer und anderer Smog über Mexico City Punkte auf einer veralteten Karte, die zudem datenbankgesicherte Grenzen, Lufthoheiten, Markanteile und Schürfrechte ausweist?

Partikulare Interessen sind es, so Havel, die den Menschen vom "demütigen Respekt vor der Ordnung des Lebens" abkommen ließen. Dadurch könne er sein Verhalten nicht mehr "regulieren". Es gälte aus einer "ausschließlich rationalen Weltauffassung" herauszutreten, neue Beziehungsformen, auch "zum Universum und seiner metaphysischen Ordnung - der Quelle der ethischen Ordnung" ausfindig zu machen.

* Die Dividierung stellt das koloniale Grundmuster dar. Die Dividierung von Mensch wie Boden sind zwei Seiten einer Medaille. Basiert nicht das gesamte Maximierungsdenken auf der Dividierung, die ja auch Basis für die Kolonialisierung des Denkens ist? "Außerhalb des Marktes kein Sein", ein neues Dogma, hat damit zu tun.

Die Welt besitzt so etwas wie eine Seele Havel schreibt, dass sich die gesamte Werteskala vom "Respekt vor dem metaphysischen Horizont des eigenen Seins" hin zum "Ideal ständig wachsender Produktion und Konsumation" verschoben habe. Zeit und Raum scheinen auf Marketing reduziert. Megafusionen illustrieren, was es heißt, sich den Globus "einzuverleiben". Parzellierung und Besitzstreben haben Entsprechungen in der Zersplitterung des Bildungsgutes und eines Gesamt, das Lebensfäden verbindet. Mit der Musterung nach "time is money" werden auch Zeiträume wie Kolonialräume verwaltet. Das Greifen nach Besitz zeigt(e) sich in der Domestizierung von Kopf und Herz.

In "Moral in Zeiten der Globalisierung" bringt Havel einen überraschenden Aspekt ein: "Auch die Welt besitzt so etwas wie Seele." Sie ist "mehr als ein Komplex (...) objektivierbarer Informationen, die man nur mechanisch zu sammeln braucht".

In der Splitterung von Subjekt und Objekt, ist die Grundlage für die Kolonialisierung des Geistes, für die Kolonialisierung des Menschen durch den Menschen zu finden. Darin liegt auch, was Gstettner "Kolonialisierung des Bewußtseins und Zivilisierung der Seele" nennt, liegt der Keim des Missverständnisses der Natur gegenüber (siehe BSE). In der Urtrennung von sich liegt der Kern aller (Selbst) Ausbeutung.

Die Splitterung beflügelt eine Entwicklung hin zur Expansion auf allen Linien: Wissen gilt es zu erobern, wie eben die Neue Welt erobert wurde. Abgerungenes wird sichergestellt und verwaltet. Aus all den Eurozentriken ist kaum auszubrechen, wir können aber versuchen, Kolonialisierungen von Leib, Geist und Psyche zu erkennen und schrittweise zu überwinden.

* Manche sehen "Eine Welt" als eine Fortschreibung alter militärischer, pädagogischer und sonstiger Missionsgeschichten, nun mit anderer Titelhierarchie. Die datenverarbeitenden Netze haben die Welt klein, eins, gemacht. Es gilt, die Welt als ein System zu erfassen, das sollte eigentlich verbinden. Massenmedien, ein Reflex bestehender wirtschaftlicher Ungleichverhältnisse, vermögen das aber kaum. Das hat auch mit der limitierten Aufnahmefähigkeit angesichts der kapitalisierten Zeichensturzflut zu tun. Wir leben in der "einen" Welt, nicht nur räumlich gesehen. Seitdem die industrielle Zivilisation "auch den letzten Winkel der Welt "coca-colisiert" hat, gibt es auch nur noch ein einziges Bild von der Welt (...)" (Treml).

Das gebrochene Einssein der Welt zeigt sich unter anderem.: - in der Kapitalisierung von Menschen und deren Gefühlen, - in der Splitterung "mein-dein", - in der Respektlosigkeit vor der Natur, - in manchen Formen, Wissenschaft zu betreiben, - in der Gefahr, nur mehr ein statistischer oder marktbezogener (Abruf-)Posten zu sein. Alle diese Punkte spiegeln das Geflecht von (Nicht-)Beziehungen von Nord und Süd.

Die eine Welt geht mit der Sucht, "mehr" (schneller, produktiver) zu sein verloren. Dafür braucht es kühne Rechtfertigungen. Beispiele häufen sich in der Kultur, die das Mehr zu einem epochalen Lehrsatz über Selbstberechtigung und Daseinsberechtigung gemacht hat. Rassismus, politische, kulturelle, religiöse und soziale Apartheid, wirtschaftliche "Herrenideologien", all dies hat in der Entfremdung des Menschen von sich, seine Ursprünge. Und dann bricht die eine Welt auseinander.

Den Norden human zurecht-entwickeln "Eine Welt" heißt, den Mythos entzaubern, dass alle Länder nach dem Muster des Nordens im Überfluss leben können. Das würde die Erde ökologisch ruinieren. Die Lösung wird wohl in einem Zurecht-Entwickeln der Länder des Nordens auf ein ökologisch und human gerechtes Maß liegen und in einer Gestaltungsform der Länder des Südens, die ihnen gemäß ist. Dieses "Gemäßsein" kann für den Norden überlebensnotwendig werden.

Eine Welt? Ja, aber ohne Definitionsmächtigkeiten, ohne Hegemoniebestrebungen. Eine Welt? Ja, aber ohne die Interpretationsmuster Wohlgeborener weniger Wohlgeborenen gegenüber und ohne Abdrängung der Miteinbeziehung ganzheitlicher Muster. Diese - eine - Welt braucht Menschen, die Brücken bauen, künstlerisch, religiös wie politisch.

* Eine besondere Form des Kolonialismus war und ist ja, das Ich des Anderen auszugrenzen. Das "Ichsein" des anderen wird zu einem "Meinem" transferiert, erst mit subtiler, später mit offener Gewalt. Dann ist er mein Nächster "verordnet heimisch". Es gibt einen Kolonialismus in den Beziehungen, überall dort, wo Mechanismen der Vereinnahmung wirksam werden. Koloniale Strukturen verlangen, dass der andere meine Passform akzeptiert. Bleibt aber der andere in seinem "So bin ich", ist sie in Frage gestellt. Das revisionsbedürftige Selbstbild bereitet Angst, auch im Dialog Nord-Süd.

Bin ich mir der Schichten wo die Vorurteile gegenüber dem Fremden aufliegen nicht bewusst, dann stehe ich dem Fremden fassungslos gegenüber. Und um eben diese Fassung doch nicht zu verlieren, grenze ich aus, laufe Gefahr, mein "so" gefasstes Ich zu verlieren, fassungslos dem Fremden (der anderen Sprachmelodie oder religiösen Gebärde) gegenüberzustehen.

In der Zeit des Kolonialismus zweifelten Eroberer, ob Indianer überhaupt ichfähig seien, die Dialogmöglichkeit war abgesprochen. Feindbildmechanismen, die ja Verdrängungen darstellen von etwas, "was mir heimisch ist" (was im Innersten schlummert und schmerzfrei bleiben will), können so weit gehen, dem "Anderen" sein Ichsein zu verwehren. Das heißt: Ich möchte das "Sein-Ichsein" in ein "Mein-Ichsein" verwandeln. Dann ist er mein, wird "heimisch" und hat mein Passbild.

Erfroren in einer gierigen Eigenwelt Bündeln wir: 1. Dialogpädagogisch wichtig ist, gemeinsam Durchdachtes von der sozial verantworteten Praxis nicht zu trennen. Religionssoziologisch ist die dialogische Haltung von dramatischer Bedeutung. Erst das Bewusstsein um die Wurzeln der eigenen Religion kann den Dialog stiften.

2. Nord-Süd kann nicht allein auf einer politisch-globalen wirtschaftlichen Ebene gesehen werden. Es berührt gemeinschaftliche und persönliche Geschichte. Die Entsolidarisierung zeigt sich ja zuerst in jedem einzelnen. Der in sich Verarmte erfriert in einer lauten und gierigen Eigenwelt. Er kann keine Lücke an Barmherzigkeit finden, die Umwelt stellt sich ihm genauso "lückenlos" dar. "Die antikoloniale Bewegung war deshalb immer auch Versuch die eigene Persönlichkeit wiederzufinden" (Imfeld).

3. Am Beispiel der Minderheiten lässt sich ablesen, dass der koloniale Mechanismus nicht nur mit "Ferne", sondern auch mit Nähe, mit "Mutterland" zu tun hat(te). Kolonialismus ist zudem ein Prinzip von (selbsternannten) Mehrheiten gegenüber Minderheiten geblieben.

4. Das Thema Nord-Süd entscheidet sich wesentlich in der Ersten Welt. Wir sind grenzenlos verwoben und jedes Volk muss sich immer wieder neu entdecken. Vereinnahmungen stehen den so überlebensnotwendigen Beziehungserfahrungen entgegen (Die Globalisierung lässt eine Wertepädagogik dringlich erscheinen.)

Erstrangig ist eine Entwicklungspolitik "vor Ort" wo unmittelbare Lernplätze sind. Wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass das Gedächtnis ein "Sozialorgan" ist (Hüther). Die "Einheit in der Verschiedenheit" fordert "archetypale Weisheit", sowie "Mitleid und Vertrauen in die Wirkung konkreter Schritte" (Havel).

Der Autor ist a.o. Univ.Prof. für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck und Prof. für Humanwissenschaften an der Pädagogischen Akademie. Im Vorjahr erschien sein Buch: "Wo liegt Afrika? - Pädagogisch-anthropologische Grundpositionen zum Nord-Süd-Dialog",Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main.

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