"Wir brauchen heute keine Gandhis mehr"

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Pavan Varma, hoher Beamter im indischen Außenministerium, hat in seinem Buch"The Great Indian Middle Class" dieser gebildeten und privilegierten Schicht einen Spiegel vorgehalten: er fordert sie auf, auch selbst Verantwortung für Armut und Elend in ihrem Land zu übernehmen.

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Pavan Varma, hoher Beamter im indischen Außenministerium, hat in seinem Buch"The Great Indian Middle Class" dieser gebildeten und privilegierten Schicht einen Spiegel vorgehalten: er fordert sie auf, auch selbst Verantwortung für Armut und Elend in ihrem Land zu übernehmen.

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W enn ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit 350 Millionen Menschen in absoluter Armut leben, weitere 300 Millionen ein Leben an der Armutsgrenze fristen, wenn alle drei Minuten ein Kind an einer leicht heilbaren Krankheit wie Diarrhöe stirbt und die Hälfte der Menschen einer Stadt wie Mumbai (ehemals Bombay) in Slums lebt, dann geht es nicht länger an, einfach wegzuschauen. Dann muss die Elite einen Weg der Entwicklung suchen, der alle mit einbezieht, denn langfristig gefährdet die soziale Kluft auch die politische Stabilität des Landes. In einer Nachfolgepublikation mit dem Titel "Maximize Life" hat Pavan Varma der Mittelklasse Anleitungen gegeben, wie aus Bewohnern verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger werden. Mit Varma sprach die furche in Neu Delhi.

die furche: Sie enden Ihr Buch über die Mittelklasse mit einem leidenschaftlichen Appell an diese Schicht, sich verantwortlich zu fühlen für das gesamte Land. Nur wenn die privilegierte Elite sich auf ein Modell der Entwicklung einigt, das alle Inderinnen und Inder mit einbezieht, wird, wie Sie meinen, das Land im 21. Jahrhundert geeint, demokratisch, stabil und letztlich auch wohlhabend sein können. Sind Sie besorgt, dass die Mittelklasse sich mehr und mehr auf sich selbst und ihre eigenen persönlichen und beruflichenInteressen konzentriert?

Pavan Varma: Was ich am Ende meines Buches sage, ist mir wirklich ein großes Anliegen. Die Mittelklasse darf nicht nur als Zahl gesehen werden, wie das jetzt seit der 1991 eingeleiteten Wirtschaftsliberalisierung immer mehr der Fall ist. Es wird nur analysiert, was sie isst und was sie kauft und wieviel sie ausgibt. Sie muss als Klasse gesehen werden, die gemessen an ihrer Größe eine unverhältnismäßig große Rolle in der Gestaltung des modernen Indien gespielt hat.

Wie ich in meinem Buch schreibe: "Im gerade unabhängig gewordenen Indien waren die oberen und mittleren Klassen strategisch am besten platziert, um die Staatsmacht zu kontrollieren. Ihre Vertreter beherrschten die allmächtige Bürokratie, sie dominierten Bundes- und Regionalparlamente, sie waren in Wirtschaft und Industrie am Ruder, sie besaßen am Land den meisten Grund." Als Ergebnis davon hat die Mittelklasse die Agenden des Staates für ihre Interessen genutzt, obwohl das damals sozialistische Indien offiziell zugunsten der Unterprivilegierten eingestellt war. Hinter der Fassade der sozialistischen Rhetorik hat die Mittelklasse ihre Interessen weiter verfolgt.

Ich fand nun, dass ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit die Zeit gekommen war, Bilanz zu ziehen, diese Rolle zu analysieren, über die Bilder und Mythen hinaus, die diese Klasse sich von sich selbst macht und an die sie glaubt. Ich möchte kurz die Optionen aufzählen: Ich glaube nicht, dass über Nacht eine große Persönlichkeit auftaucht, die mit einem Zauberstab das verheerende demographische Desaster korrigieren kann, das Indien geworden ist und das die gebildeten Mittel- und Eliteklassen sich weigern anzuerkennen. Ich glaube nicht, dass wir eine Revolution erleben werden wie sie sich in China oder in der Sowjetunion ereignete, die die Hierarchien von Grund auf verändern wird.

die furche: Woran glauben Sie dann? Welche Optionen sind denkbar?

Varma: Selbst wenn man die optimistischsten Annahmen hernimmt, denen zufolge bis zum Jahre 2025 die Mittelklasse auf 500 Millionen Menschen anwachsen soll, so wird es dann noch immer 600 Millionen Arme und sehr Arme geben.

Was sind unsere Optionen, wenn wir nicht Vogel Strauß spielen wollen? Die Gebildeten und Privilegierten dieses Landes müssen in ihrem eigenen langfristigen Selbstinteresse Bilanz ziehen und agieren.

Ich argumentiere nicht mit Idealismus und den Lehren von Mahatma Gandhi. Ich appelliere nur an das langfristige Selbstinteresse. Denn man kann eine Nation nicht in wasserdichte Abteilungen trennen und einen Schutzgürtel zwischen ihnen ziehen, schon gar nicht in einer funktionierenden Demokratie. Diese wird dafür sorgen, dass immer Menschen von unten nachrücken und die Sezession der Eliten nicht erlauben. Jeder solche Versuch würde zu politischer Instabilität und schrecklichen sozialen Spannungen führen, die langfristig, genau den Wohlstand gefährden, den die Mittelklasse für sich anstrebt. Und ich argumentiere für eine pragmatische Revolution, eine, die sich im Mittelfeld zwischen dem kaum nachahmbaren sozialen Aktivismus eines Mahatma Gandhi und jener völligen Gefühllosigkeit gegenüber sozialen Belangen ansiedelt, wie sie heute die Mittelklasse kennzeichnet.

Wir brauchen heute keine Mahatma Gandhis, wir brauchen normale Durchschnittsbürgerinnen und -bürger, denen etwas an dem Land liegt und die sich als Teil einer verantwortlichen Zivilgesellschaft fühlen. Jeder muss tun, was und wann und wo und wie er kann, anstatt auf die große Lösung oder katharsisartige Revolution zu hoffen, die plötzlich alles ändern soll.

die furche: Schließen Sie eine Revolution aus? Ist die Demokratie gefestigt genug, um einen friedlichen Wandel zu ermöglichen?

Varma: Es gab eine Zeit, wo eine Revolution möglich gewesen wäre. Vielleicht noch bis zur Unabhängigkeit oder knapp danach, hätten wir nicht einen Mann wie Premierminister Jawaharlal Nehru gehabt. Aber eines der großen Wunder dieses Landes, ist, dass wir eine funktionierende Demokratie sind. Und das macht mich auch sehr stolz.

Indien hat es auch immer geschafft, ein gewisse ökonomische Entwicklung zu verfolgen. So ineffizient das System ist, es war doch effizient genug, um die Hoffnung auf sozialen Aufstieg selbst unter den Allerärmsten aufrecht zu erhalten. Das ist ein einzigartiges Experiment für ein Entwicklungsland von dieser Größe und Vielfalt. Es gibt weltweit keine Parallele dafür. Es ist ein Wunder. Heute halte ich daher eine Revolution für unmöglich. Aber wenn daraus Blindheit wird, wird es gefährlich. Die Zeit der Selbstgefälligkeit ist vorbei für die gebildete Elite. Früher konnten wir uns weiter wurschteln, uns sagen, in 20 Jahren wird alles anders und viel besser sein. Aber heute ist Indien ein demographisches Monster. 350 Millionen Menschen leben in absoluter Armut!

die furche: Gerade diese Armen sind mehreren Studien zufolge aber die eifrigsten Wählerinnen und Wähler, während die Wahlbeteiligung unter der Mittelklasse und Elite weitaus geringer ist. Fürchten Sie, dass diese privilegierten Schichten letztlich bereit sein könnten, letztlich sogar auf die Demokratie zu verzichten, wenn nur ihre eigenen Interessen gewahrt bleiben?

Varma: Die Urne wird für die Menschen unterhalb der Mittelklasse zum einzigen Ort, wo sie das Establishment dazu veranlassen können herzugeben, was sie sonst nicht bekommen würden. Die Mittelklasse fühlt, dass die - wie es in Indien formuliert wird - "ungewaschenen Massen" ihre Gartenmauern hinaufklettern. Und es wird Zeit, dass diese Mittelklasse akzeptiert, dass es keinen Sinn hat zu trotzen. Die Mittelklasse hätte am liebsten ihre Sicherheit und eine Demokratie, die ihre Bedürfnisse erfüllt.

Es besteht eine Gefahr für die Demokratie insofern, als die Mittelklasse sehr bereit wäre, eine Diktatur hinzunehmen, die eine Politik in ihrem eigenen Interesse macht und "diese Leute" unter Kontrolle hält.

die furche: Gerade von der Mittelklasse kommt aber doch viel Unterstützung für die hinduchauvinistische Indische Volkspartei (BJP) und deren autoritäre Tendenzen. Ist auch die diese Partei keine Gefahr für die Demokratie?

Varma: Die Mittelklasse mag Elemente haben, die den Fundamentalismus unterstützen, und größere Elemente, die autoritäre Regierungsformen stützen würden, solange ihre eigenen Interessen darin gewahrt sind. Aber ich glaube, dass das demokratische Moment der letzten 50 Jahre nicht aufzuhalten ist. Als Bürger kann ich Ihnen versichern, ob die Politiker darüber sprechen oder nicht, für die Wähler sind Themen wie Wasser, Elektrizität, eine effiziente Regierung immer noch am allerwichtigsten.

die furche: Sind Sie optimistisch, dass sich die Mittelklasse selbst einen Spiegel vorhält?

Varma: Ich erwarte, dass die Mittelklasse versteht, dass die Sicherheit und der Wohlstand, den sie für sich sucht, auf lange Frist nicht kommen kann. Wenn sie die Zeichen an der Wand nicht erkennt, dann schadet sie materiell ihrem eigenen langfristigen Interesse.

Ich habe Hoffnung, denn nach Erscheinen meiner Kolumne in der Hindustan Times namens "People Like us" (Menschen wie wir) über Individuen und Organisationen, die sich engagieren, wurden diese Personen und Gruppen stets überflutet von Hilfsangeboten. Dabei ging es in der Kolumne immer um Menschen, die normale Leben leben wie andere gebildete privilegierte Inder, die keine Mahatmas sein wollen, die auch nicht Sozialarbeiter außerhalb des Systems sein wollen. Es sind Menschen, die genau so ein Interesse an materiellen Dingen haben wie andere Angehörige der Mittelklasse, aber die noch ein bisschen Extra tun und sich dadurch als Bürgerinnen und Bürger qualifizieren und nicht einfach nur Bewohnerinnen und Bewohner sind. Quer durch Indien entsteht so außerhalb der Regierung ein Prozess, wo sich Menschen engagieren für Dinge, die man früher einfach als Aufgabe der Regierung angesehen hat. Bildung, Empowerment von Frauen, Umwelt - überall engagieren sich freiwillige Organisationen, und wir müssen das noch viel mehr fördern.

Ich glaube, es gibt Hoffnung. Aber ich muss ein Optimist sein, um das zu glauben, denn die Apathie und soziale Gefühllosigkeit, diese komplette Konzentration auf nichts als den eigenen Gewinn und Nutzen ist so dramatisch angewachsen, dass es ein mühsamer Weg sein wird. Aber wir müssen die Anstrengung unternehmen, es gibt keine andere Option für dieses Land.

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