Graduierung - © Foto: Pixabay

Wissenschaftsfreiheit: Warum wir anders denken müssen!

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Haben sich Linke, Rechtskonservative und Liberale gleichermaßen gegen die Entstehung neuer Gedanken an den Universitäten verschworen? Eine Polemik – und ein Plädoyer für Wissenschaftsfreiheit.

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Haben sich Linke, Rechtskonservative und Liberale gleichermaßen gegen die Entstehung neuer Gedanken an den Universitäten verschworen? Eine Polemik – und ein Plädoyer für Wissenschaftsfreiheit.

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Die Wissenschaft liegt darnieder, und alle begehren, nicht schuld daran zu sein. Linke reagieren entnervt auf die Vorwürfe, an den Unis eine Meinungsdiktatur auszuüben. Verschaffen sie nicht umgekehrt Stimmen Gehör, die lange marginalisiert wurden? Rechtskonservative halten sich zugute, die Standards des rationalen Diskurses hochzuhalten, und wollen von allen Marginalisierten die Marginalisiertesten sein. Und Liberale bilden sich ein, mit den verschlafenen Verhältnissen an den Universitäten aufgeräumt und das Leistungsprinzip durchgesetzt zu haben. Jeder arbeitet sich an seinen Gegnern ab. So bleibt es auch jedem erspart, sich mit der eigenen unglückseligen Rolle für die Unis auseinanderzusetzen.

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Symptomatisch für die desolate Lage ist die aktuelle Gründung des soge­nannten „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“. Die Gründungsmitglieder (fast ausschließlich Professoren und Professorinnen deutscher und österreichischer Universitäten) beklagen sich, dass Wissenschafter zunehmend „moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben“ unterworfen werden. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es um die Wissenschaftsfreiheit schlecht bestellt ist, dann findet er sich in der „Debatte“, die seitdem über die Frage geführt wird, ob an den Unis unliebsame Meinungen unterdrückt werden. Denn woran sich niemand zu stören scheint: Wissenschaftsfreiheit kommt in dieser Auseinandersetzung überhaupt nicht vor. In Wahrheit wird darüber diskutiert, ob es Meinungsfreiheit an den Unis gibt, was keineswegs dasselbe ist. Idealerweise wird an Universitäten Neues geäußert, und es kommt zu überraschenden Experimenten und Überlegungen. Neues kennzeichnet sich dadurch, in den althergebrachten Meinungen keinen Platz zu finden. Die Wissenschaftsfreiheit ist sehr wohl gefährdet, aber weniger weil Universitätsangehörige nicht mehr sagen können, was sie denken, sondern weil sie zunehmend nur noch wiederholen können, was schon einmal gedacht wurde.

„Andersdenkende tolerieren“ reicht nicht

Es mutet jedenfalls nicht sonderlich wissenschaftlich an, wenn Professoren wehleidig das Land nach Foren abgrasen, wo sie sich nicht äußern konnten: „Hier wurde ich ausgeladen, da ausgepfiffen.“ Selbst wenn das zutrifft, als ernsthafter Wissenschafter sollte man eigentlich andere Probleme haben, etwa: feststellen zu müssen, dass die eigenen Annahmen bereits irgendwo geäußert wurden und man sich folglich etwas Neues überlegen muss. Wissenschafter ist, wer kein gutes Buch, kein gewitztes Experiment, kein faszinierendes Paper zur Kenntnis nehmen kann, ohne im Grunde deprimiert zu sein: „Schade, das kann ich nun nicht mehr selbst schreiben.“ Die Forderung, „Andersdenkende“ zu tolerieren, ist viel zu bescheiden. An den Unis lautet die Aufgabe, überhaupt nur diejenigen zu prämieren, die anders denken.

Wir müssen wieder lernen, weniger für unsere Überzeugungen einzustehen, als von ihnen gelangweilt zu sein.

Dazu müssen wir wieder lernen, weniger für unsere Überzeugungen einzustehen, als vielmehr von ihnen gelangweilt zu sein. Unsere persönlichen Ansichten in allen Ehren, doch ganz egal wie begründet und reflektiert sie auch sein mögen, sie sind zu 80 Prozent banal (in meinem Fall zu 98 Prozent) und deshalb keine große Hilfe beim Erkenntnisgewinn. Universitäten sollten nicht dazu da sein, die Meinung frei zu äußern, sondern sich freiwillig seiner Meinung zu entäußern. Haltung zeigen? Enthaltung üben! In Abwandlung des Philosophen Samuel Taylor Coleridge gesagt: Erforderlich ist eine willing suspension of belief.

So spinnefeind sich Linke, Rechtskonservative und Liberale auch sind: Gegen die Entstehung neuer Gedanken haben sie sich gleichermaßen verschworen. Konservative beklagen sich, ihre Ansichten nicht äußern zu können. Diese Ansichten sind allerdings, weil konservativ, altbekannt. Ihre Schwäche, nichts Überraschendes beizusteuern, verkaufen Konservative deshalb gerne als die Stärke, sich ihren gesunden Menschenverstand bewahrt zu haben und sich etwa „verrückten“ linken Sprachregelungen zu versperren. Wer sich auf ein natürliches Sprachempfinden beruft, kann sich zwar des allgemeinen Beifalles außerhalb der Wissenschaft sicher sein, aber er läuft Gefahr, das Kind (der Wissenschaft) mit dem Bade (der gendergerechten Sprache) auszuschütten. Mir ist jedenfalls kein bedeutendes wissenschaftliches Werk bekannt, welches dem gesunden Menschenverstand gehuldigt hätte, anstatt kontraintuitiv zu sein.

Aber auch Linke verraten das Neue. Ihr Verrat ergibt sich aus dem eigentlich liebenswerten Vorhaben, marginalisierten Gruppen Gehör zu verschaffen. Jeder, der derart „inkludiert“ wird, sieht sich aber ausgeschlossen von dem, was den eigentlichen Reiz des universitären Spiels ausmacht: anders zu denken, wenn nicht gar jemand anderes zu werden. Er ist dazu angehalten, seine Identität auszudrücken oder mindestens auszudrücken, dass es ihm verwehrt wird, seine Identität auszudrücken. Der linke Diskurs hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verschoben: Mittlerweile geht es fast nur noch darum, Ausgeschlossene hereinzuholen. Doch noch einer Feministin wie Donna Haraway hätte es nicht gereicht, die verfemte weibliche Perspektive einzubringen. Sie wollte sich lieber mittels der exotischen Perspektive der Cyborgs aus der aktuellen Gesellschaft herauskatapultieren. Heute werden fremde Perspektiven in jene ausgelagert, denen sie „gehören“ – und diese werden eingemeindet; aber in den Glanzzeiten der Theorie dienten fremde Perspektiven dazu, die eigene Perspektive auf die Welt zu verfremden und eine andersartige Welt aufzubauen.

"Wettbewerb der Ideen"?

Die Liberalen schließlich verraten das Neue im Namen des Neuen selbst. Wenn sie „Innovation“ sagen, versiegt Innovation, wenn sie „Wettbewerb der Ideen“ sagen, grassiert Ideenlosigkeit, wenn sie „Forschungsstandort“ sagen, hat Forschung keinen guten Stand. Ihre Ideologie ist dafür verantwortlich, dass den Wissenschaftern ein sicheres Auskommen genommen und ihnen eine Konkurrenz um „innovative“ Ideen aufgezwungen wurde. Man erhält nur dann Geld und Zeit zu forschen, wenn man zuvor einen Hürdenlauf aus Anträgen, Gutachten, Kommissionen passierte, den kein halbwegs origineller Ansatz überlebt – eine merkwürdige Verquickung aus Markt und Bürokratie, die von beiden Welten das Schlechteste bewahrt: vom Markt die soziale Unsicherheit, von der Bürokratie die geistige Ödnis. Es erübrigt sich zu sagen, dass die einzige Idee, die vom Wettbewerb der Ideen verschont bleibt, die dumme Idee vom Wettbewerb der Ideen selbst ist.

Die Universitäten haben aufgehört, Neuem einen gastlichen Empfang zu bereiten. Wir machen uns keine Vorstellung davon, was uns entgeht.

Der Autor lehrt am Institut für Philosophie der Universität Wien.

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