Zusammenwachsen - trotz allem

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Oft werden Kinder in hochbelastete Familien hineingeboren. Der Wiener Verein "Grow Together" entlastet die Eltern, stärkt die Bindung zu ihrem Kind und beendet mit engmaschiger früher Hilfe den Kreislauf aus Armut, Überforderung und Gewalt.

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Oft werden Kinder in hochbelastete Familien hineingeboren. Der Wiener Verein "Grow Together" entlastet die Eltern, stärkt die Bindung zu ihrem Kind und beendet mit engmaschiger früher Hilfe den Kreislauf aus Armut, Überforderung und Gewalt.

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Es ist im November 2013, als das Leben von Sarah K. aus den Fugen gerät: In einem Wiener Krankenhaus bringt die damals 37-Jährige Zwillinge zur Welt, ein Mädchen und einen Buben, sechs Wochen zu früh. Vor allem bei Sohn Aaron, der wie die ganze Familie in Wirklichkeit anders heißt, sind die Folgen der Frühgeburt dramatisch: Weil er unter massiven Atemschwierigkeiten leidet, wird er sofort ins Preyer'sche Kinderspital in Wien-Favoriten verlegt, seine Schwester und Mutter folgen. Insgesamt sechs Wochen wird Sarah K. im Spital verbringen und Milch abpumpen, während beide Frühchen über Magensonden ernährt, gegen Gelbsucht behandelt und wegen Atemaussetzern mittels Monitor Tag und Nacht überwacht werden.

Vollkommene Überlastung

Schon intakte Familien geraten in solchen Situationen an den Rand ihrer Belastbarkeit. Doch Sarah K. hat noch dazu massive Beziehungsprobleme: Bis zuletzt weiß sie nicht, ob der Kindesvater überhaupt noch zuhause sein wird, wenn sie mit den Kindern das Spital verlässt. Er ist da, wie sich zeigt, doch nach sechs Monaten packt er seine Koffer. Freunde oder ihre eigene Familie, die in Salzburg lebt, können sie nur kurz unterstützten. In ihrer Verzweiflung beantragt Sarah K., die auch noch Mutter eines zehnjährigen Sohnes ist, schließlich eine Familienhelferin der Caritas. Doch für die völlig entkräftete Alleinerzieherin reicht diese kurzzeitige Hilfe nicht aus.

Die Wende kommt im Herbst 2014, als eine Freundin vom neuen Verein "Grow Together" erfährt, der Familien in schwierigen Lebenssituationen langfristig und intensiv begleitet. Sarah K. meldet sich und wird prompt ausgewählt. "Es war ein Wunder", sagt die 38-Jährige heute, während sie in der Küche ihrer Wohnung in Wien-Penzing Gemüse für eine Suppe schält - und die 15 Monate alten Zwillinge im Nebenzimmer endlich schlafen.

Dank "Grow Together" wird sie nun tatkräftig unterstützt: Dreimal pro Woche kommen eine haupt- bzw. eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Vereins zu ihr nach Hause, um ihr unter die Arme zu greifen. Jeden Donnerstag besucht Sarah K. zusätzlich die "Mutter-Kind-Gruppe" des Vereins in der Pfarre Ober St. Veit: Hier wird nicht nur gemeinsam gekocht, hier haben die betreuten Familien auch die Möglichkeit zur Information und zum gegenseitigen Austausch.

Sarah K. trifft hier auf Frauen, denen es noch schlechter geht. Als alleinerziehende dreifache Mutter ist sie zwar massiv überlastet und als Bezieherin der bedarfsorientierten Mindestsicherung in einer prekären finanziellen Situation, in der sie schon eine Stromund Gasnachzahlung in existenzielle Bedrängnis bringt. Aber sie ist psychisch stabil, kann sich organisieren und hat eine enge Bindung zu ihren Kindern aufgebaut.

Gespenster der Vergangenheit

Viele der Frauen in der Donnerstags-Gruppe haben diese Voraussetzungen nicht: auch häusliche Gewalt, Suchtproblematik und psychische Krankheiten sind dort Themen. Ebenso gibt es hier Familien, bei denen die ersten Kinder fremd untergebracht werden mussten: Sie werden darin unterstützt, trotz ihres Verlustes und aller Trauer ihr neues Kind wahrzunehmen und eine tragfähige Bindung zu ihm aufzubauen. Für diese schwer belasteten Familien organisieren die sechs haupt-und 15 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen des Vereins ein noch dichteres Netz an Unterstützungsmaßnahmen: Sie begleiten die Mütter bei Bedarf auch zu den wöchentlichen Gruppentreffen und organisieren Einzelpsychotherapie, um sich den Gespenstern der eigenen Vergangenheit zu stellen. Ein Ansatz, der in Kooperation mit dem Jugendamt so manche Kindesabnahme verhindern -und den oft Generationen andauernden Kreislauf aus Armut, Abwertung und Gewalt durchbrechen soll.

"Wir bemühen uns um eine respektvolle, nicht belehrende Haltung gegenüber diesen Frauen. Die haben so viel erlebt, die könnten uns belehren", betont die Kinderärztin und Psychotherapeutin Katharina Kruppa, die "Grow Together" gemeinsam mit der Familienberaterin Anna Nostitz gegründet hat. Als langjährige medizinische Leiterin der "Baby Care Ambulanz" am Preyer'schen Kinderspital hat Kruppa die Not vieler Jungfamilien miterlebt - und gravierende Versorgungslücken in Österreich festgestellt. Allein in Wien werden jährlich etwa tausend Babys in Familien hineingeboren, die akuter Armut, Gewalt, Drogenabhängigkeit oder psychischen Problemen ausgesetzt sind. Kommt es zur Kindesabnahme, fallen die Eltern durch den Schock des Verlustes häufig in destruktive Muster zurück. "Nicht selten sehen wir dieselben Frauen wenige Jahre später wieder mit einem neuen Kind, das sie nicht versorgen können", erzählt Katharina Kruppa. Dabei wäre gerade die Zeit um Schwangerschaft und Geburt eines Kindes sowohl neurobiologisch wie auch psychosozial ein Zeitfenster, in dem nachhaltige Veränderungen möglich sind. Lohnend sind sie in jedem Fall: "Was im letzten Drittel der Schwangerschaft und in den ersten beiden Lebensjahren investiert wird, kommt später vielfach zurück", weiß die Kinderärztin.

Ansturm auf Verein

Spät, aber doch wird diesen effizienten "Frühen Hilfen" nun auch in Österreich besondere Bedeutung geschenkt (s. unten). Wie groß der Bedarf wäre, zeigt sich schon daran, dass es mittlerweile pro Woche mehrere Zuweisungen an "Grow Together" gibt: von Schwangerenberatungsstellen, Jugendämtern, aber auch Selbstmelderinnen. Ein Ansturm, der die Ressourcen dieses europaweit einzigartigen Pilotprojektes sprengt: Schließlich finanziert man sich zu zwei Dritteln aus Spenden, Stiftungen und dem Geld für den Innovationspreis "Ideen gegen Armut", den man 2013 gewonnen hat.

"Wir bräuchten viel mehr Ressourcen", sagt Katharina Kruppa. Im Grunde aber bräuchte es eine Gesellschaft, in der Starthilfen wie jene von "Grow Together" nicht Eigeninitiativen, sondern selbstverständlich sind. Sarah K. jedenfalls hofft, dass sie noch bis zum Kindergarteneintritt ihrer Zwillinge Unterstützung erhält. Dann wird sie es schaffen, mit ihren drei Kindern weiter zusammenzuwachsen - allen Umständen zum Trotz.

Nähere Infos: www.growtogether.at

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