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Faustpfand gegen den Panarabismus

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Die Freigabe der jüdischen Auswanderung nach Israel durch die kommunistischen Satellitenstaaten hat sofort das größte Aufsehen in der arabischen Welt hervorgerufen. Dabei handelt es sich in allen osteuropäischen Staaten außer der Sowjetunion nur um einige Hunderttausend, von denen nur ein Bruchteil im mili- tärdienst- und arbeitsfähigen Alter steht. Die Sowjetunion selbst hat ihren Juden die Auswanderung bisher nicht freigegeben. Formal steht dem die heutige sowjetische Gesetzgebung entgegen. Denn nach der sowjetischen Verfassung ist jeder Sowjetbürger verpflichtet, bis zum Pensionierungsalter, also bis‘zum 60. Lebensjahr, dem Sowjetstaat zu dienen. Damit ist eine Auswanderung unmöglich gemacht, und man kann natürlich auch für die Juden keine Ausnahme machen. In Wirklichkeit jedoch steckt dahinter noch anderes. Nach Amerika ist die Sowjetunion das Land mit der größten jüdischen Bevölkerung, schätzungsweise zwei bis drei Millionen. Auf jeden Fall sind es mehr Menschen, als der Staat Israel heute insgesamt Einwohner zählt. Nun ist ja auch im Staate Israel gerade die aus Rußland und Polen eingewanderte Bevölkerungsschicht politisch, kulturell und vor allem militärisch führend. Wenn wir hier weiter von Juden sprechen, so meinen wir damit natürlich jene Völkerschaft, die im Westen mit Ostjuden, von den Russen umgekehrt mit Westjuden bezeichnet wird. Es handelt sich um jene Juden, die ursprünglich in der Ukraine, in Weißrußland und Polen siedelten und einst alle die jüdische Muttersprache gesprochen haben. Es gibt sonst noch ein halbes

Dutzend kleiner jüdischer Völkerschaften in der Sowjetunion, deren Schicksal heute vollkommen unbekannt ist.

Diese zwei bis drei Millionen Ostjuden stellen, da ein großer Teil von ihnen Arbeiter und Bauern und ein kleinerer Teil Fachleute aller möglichen Arten sind, ein wertvolles Einwanderungsmaterial dar. Was jedoch weitgehend in der Welt unbekannt ist und was der Sache ein besonderes politisches Gewicht gibt, ist die merkwürdige Tatsache, daß ein wesentlicher Teil dieser Judenschaft große Neigung und auch Ta’ent zum militärischen Beruf besitzt. Das erklärt übrigens auch die Qualität der israelischen Armee in Palästina. Die militärischen Fachleute der Staaten, in denen diese Ostjuden lebten, wußten das sehr gut. Oesterreich-Ungarn betrieb eine planmäßige Politik, indem es die Juden Galiziens und der Bukowina seit Josef II. in den militärischen Beruf hineinzog.

Die jüdischen Berufsunteroffiziere der alten k. u. k. Armee sind jedem, der einmal in dieser Armee diente, als Typen bekannt. Joseph Roth schildert in seinem Roman „Radetzky-Marsch" gerade diesen Soldatentyp. Der gleiche Schriftsteller schildert auch den russischen Gegentyp in seinem Roman „Hiob". Der Schriftsteller Isaak Babel hat auf russisch diesen Menschentyp ebenfalls wiederholt beschrieben. Einer vollen Entfaltung dies- Neigungen stand einst die jüdische Religion entgegen. Zar Nikolaus 1. versuchte trotzdem in der Mitte des vorigen Jahrhunderts durch seine berühmten Kantonistenschulen und durch Zwangsrekrutierungen zehnjähriger jüdischer Knaben aus diesem Bevölkerungsteil Unteroffiziere für seine Armee zu gewinnen. Im letzten Weltkrieg entstammte diesem Ostjudentum der sowjetische Generaloberst Tschernjakowski der besonders in der deutschen Memoirenliteratur als überaus talentierter, sehr angriffslustiger und energischer Panzergeneral geschildert wird. Er ist übrigens auch der einzige Armeeführer des letzten Weltkrieges und einer der ganz wenigen in der Weltgeschichte, der in der Schlacht fiel.

Alle diese Tatsachen muß man sich vor Augen halten, wenn man die Bedeutung der Juden in der Sowjetunion richtig einschätzen will. Würde die Sowjetunion die Auswanderung der Juden freigeben, würde das allgemeine und vor allem das militärische Potential des Staates Israel derartig steigen, daß jede Hoffnung der arabischen Welt auf Vernichtung oder Zurückdrängung der Juden aus Palästina illusorisch würde. Somit sind die Juden in der Sowjetunion ein wertvolles Pfand in den Händen des Kremls im Spiel um den militärischen Osten.

Seit 1917 haben die Sowjets konsequent jede nationalistische Bewegung außerhalb Europas unterstützt. Das liegt ganz in der Linie ihrer revolutionären Theorien, da ihnen die Befreiung kolonialer und halbkolonialer Völker als Vorstufe einer späteren sozialen, also kommunistischen Revolution als unvermeidlich erscheint. Es liegt jedoch auch ganz in der Linie der staatspolitischen Interessen der Sowjetunion, denn sie unterstützten solche nationale Bewegungen jeweils gegen ihren weltpolitischen Widersacher.'

Bisher hatten sich die Sowjets auf die moralische und etwa auch wirtschaftliche Unterstützung der nationalen Selbständigkeitsbestrebungen beschränkt. Sie haben jedoch dabei stets eine Enttäuschung erlebt. So unterstützten sie seinerzeit mit großen Mitteln Resa-Schah, den Vater des heutigen Kaisers von Persien, und ermöglichten es ihm, zu erreichen, daß die Engländer Südpersien räumten und die persische Unabhängigkeit wieder weitgehend hergestellt wurde. Kaum aber hatten die Perser dies erreicht, wandten sie sich von den Sowjets ab. Die weitere materielle Unterstützung erhielten sie dann von der anderen Seite. Aehnlich ist es mit der Türkeit gegangen. Als Kemal-Pascha der sich später Atatürk nannte, seinen Kampf gegen die siegreiche Entente führte, wurde er von Lenin weitgehend mit Waffen und Geld unterstützt. Die von ihm gegründete moderne Türkei jedoch distanzierte sich immer mehr vom Kreml. Das klassische Beispiel ist wohl Tschiangkaischek, det heutige Führer des antikommunistischen Nationalchinas. Schon sein Vorgänger und Schwiegervater, Sun Yat-sen, attachierte sich eng an den roten Kreml. Seine Partei, der nationalistische Kuomintang, wurde Mitglied der kommunistischen Internationale. Tschiangkaischek selbst war wiederholt in Moskau, und der chinesische Nationalismus wurde von den Sowjets in einem Ausmaß unterstützt, das kaum vorstellbar ist. Für die Chinesen wurden Schulen und Hochschulen gegründet, zu Tausenden Spezialisten zur Verfügung gestellt und Militärakademien errichtet. Als Tschiangkaischek 1927 siegte, warf er von einem Tag auf den andern alle Kommunisten und Russen hinaus. Die bisherige sowjetische Unterstützung ersetzte er nach und nach durch die amerikanische.

Diese Beispiele müssen dem Kreml bei seiner Politik im Nahen Orient vor Augen stehen.

Zweifelsohne paßte ihm der arabische Nationalismus durchaus in den Kram, da dieser sich vorläufig gegen den Westen wendet. Eine Reihe arabischer Staaten, im Kampfe der Weltmächte neutralisiert, freundlich gegenüber der Sowjetunion — das ist das Ziel der Kremlpolitik. Der arabische Nationalismus jedoch, insbesondere wie ihn Nasser verfolgt, hat den gefährlichen Aspekt des Panarabismus in sich. Würde es den Aegyptern gelingen, ein allarabisches Imperium zu schaffen, dann entstünde für die Sowjets eine doppelte Gefahr: die Westmächte würden die vollendete Tatsache, ähnlich wie im Falle Persiens, der Türkei und Chinas, anerkennen, und eine Verständigung dieses arabischen Imperiums, vor allem mit den USA, wäre mehr als wahrscheinlich. Ein starker Panarabismus würde sich sehr bald auch zu einem Panislamismus ausweiten, damit die mohammedanischen Völker der Sowjetunion beeinflussen und so die innere Struktur der Sowjetunion selbst bedrohen. Vor diesen Problemen steht der Kreml im Mittleren Osten, und schon jetzt zeigen sich die ersten Sprünge in den Beziehungen zwischen Kairo und Moskau.

Um auf die arabischen Staaten auf Grund der Erfahrungen der Vergangenheit einzuwirken, genügt nicht eine eingleisige Politik, die sich nur in diplomatischer und wirtschaftlicher Unterstützung auswirkt. Der Nationalismus in Asien und Afrika — das weiß man im Kreml sehr gut — ist kein ewiger Bundesgenosse, sondern nur ein zeitweiliger Weggenosse, der einem auch einmal gefährlich werden kann. Daher hält die Sowjetrepublik noch eine Waffe in der Reserve, eben die zwei bis drei Millionen Juden, deren Eintreffen in Israel ein vernichtender Schlag gegen den arabischen Nationalismus wäre. Die Freigabe der Auswanderung der Juden aus Rumänien, so viele innerrumänische Gründe auch dafür vorhanden waren, ist vermutlich doch auch als Warnungsschuß an Kairo gedacht gewesen, weil die Sowjetregierung wahrscheinlich schon damals über die antisowjetischen Stimmungen in Aegypten orientiert war. Es ist zwar richtig, daß dank der jahrzehntelangen Feindschaft gegen den Zionismus und aus manch anderen Gründen eine massive Auswanderung aus der Sowjetunion selbst nicht leicht zu begründen wäre. Doch hat schließlich der Kreml immer eine ideologische Rechtfertigung für außenpolitische Aktionen gefunden, die ihm vorteilhaft erschienen.

Fraglich bei dieser ganzen Konzeption ist nur, ob das Objekt der erwähnten Politik, nämlich die sowjetrussischen Juden, für solche Zwecke auf lange Sicht zu gebrauchen sind. Lebendige Menschen kann man nicht aufs Eis legen. Sie unterliegen den mannigfachen Einflüssen, auch der Politik, die ihnen gegenüber betrieben wird. Das gilt auch von den Juden und der Haltung, welche die Sowjetregierung in der Judenfrage einnimmt. Diese Haltung oder Politik ist keineswegs einheitlich. Sicher ist immerhin, daß der Kreml nach wie vor den Staat Israel und den Zionismus kategorisch ablehnt. So widerspruchsvoll jedoch die innenpolitische Behandlung der Juden bisher gewesen ist, so'darf doch als beständig verfolgtes Ziel die Assimilation bezeichnet werden. Die Juden sollen sich als eigene Nationalität auflösen und so in den anderen Nationalitäten der Sowjetunion auf- gjehen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine solche Politik auch Erfolg hat, vor allem, wenn Chruschtschow auch die letzten Reste des Antisemitismus beseitigt. Damit schmilzt jedoch auch lie stärkste Waffe, die der Kreml gegen den Panarabismus hat, in seiner Hand zusammen.

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