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Juval Benziman zum Gazakrieg: "Einen Sieg für Israel wird es nicht geben"

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Der Gaza-Krieg könnte zur Einsicht führen, dass es eine Veränderung braucht, sagt Konfliktforscher Juval Benziman. Ein Gespräch über Abzugsbedingungen, Pufferzonen und einen Staat Palästina.

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Der Gaza-Krieg könnte zur Einsicht führen, dass es eine Veränderung braucht, sagt Konfliktforscher Juval Benziman. Ein Gespräch über Abzugsbedingungen, Pufferzonen und einen Staat Palästina.

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Seit mehr als zehn Wochen dauert der Krieg in Gaza – ausgelöst durch den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober – mittlerweile an. Welche Szenarien sind für die Zeit danach denkbar? Darüber sprach DIE FURCHE mit dem israelischen Konfliktforscher Juval Benziman. So viel vorweg: Trotz allem ist für ihn die Zweistaatenlösung die einzige langfristige Option.

DIE FURCHE: Premierminister Benjamin Netanjahu versprach, einen vollständigen Sieg über die Hamas im Gazastreifen zu erringen. Wie realistisch ist das?
Yuval Benziman:
Zu sagen, dass es in diesem Krieg einen Sieg geben wird, war ein Fehler. Das ruft in der Bevölkerung Erinnerungen an frühere Kriege wach. Kriege, in denen Israel durchschlagende militärische Erfolge erzielte. Aus mehreren Gründen wird sich das nicht wiederholen: zum einen aufgrund dessen, was am Tag des Hamas-Angriffes passiert ist. Ganz gleich, wie der Exit aussehen wird: Mit all den Todesopfern auf israelischer Seite können wir niemals siegreich sein. Zweitens wissen wir nicht, wie ein Sieg konkret aussehen soll. Natürlich ist die Schlagkraft der IDF (Israels Militär, Anm. d. Red.) ungleich größer als jene der Hamas. Aber es gilt, jenen zwei Millionen Palästinensern in Gaza eine Perspektive zu geben. Dafür braucht es mehr als nur die Auslöschung der Hamas. Drittens bezweifle ich, dass alle Geiseln, die jetzt noch am Leben sind, zurückkommen werden. Und es wird sehr lange dauern, bis die Soldaten in Gefangenschaft in Freiheit sind.
Zur Erinnerung: Nachdem der Soldat Gilad Schalit 2006 von der Hamas entführt worden war, kam er erst nach fünf Jahren frei. Mag sein, dass die Lage am Ende des Krieges besser ist als vorher – aber einen Sieg wird es nicht geben.

DIE FURCHE: Welche Perspektiven sehen Sie für Gaza nach dem Krieg? Könnte die palästinensische Autonomiebehörde die Regierung übernehmen?
Benziman:
Eine palästinensische Autonomiebehörde, die mithilfe einer israelischen Militäroperation in Gaza an die Macht kommt, wäre für die Menschen unglaubwürdig. Das wird nicht passieren. Abgesehen davon hat Israel im Moment überhaupt kein Vertrauen in irgendetwas, das mit den Palästinensern zu tun hat. Unabhängig davon, ob Netanjahu bleibt oder nach dem Krieg andere regieren: Israel wird jedenfalls die militärische Kontrolle über den Gazastreifen behalten wollen. Entweder indem die israelische Armee in Gaza für die Sicherheit zuständig ist und die Palästinenser die Zivilverwaltung ausüben; oder indem Israel im Gazastreifen Sicherheitszonen einrichtet, so wie früher im Südlibanon – etwa in Form einer fünf Kilometer breiten Pufferzone entlang der Grenze, die die Palästinenser nicht betreten dürfen. Ich denke, das ist es, was aktuelle und künftige israelische Regierungen im Sinn haben.
In meinen Augen wäre es besser, sich aus Gaza zurückzuziehen. Und die einzige Militärmacht, der Israel vertraut und die an seiner Stelle die Sicherheitsverantwortung in Gaza übernehmen könnte, ist die US-Armee. Es gibt die Idee, dass in Gaza Koalitionstruppen arabischer Staaten wie Saudi-Arabien und Ägypten für die Sicherheit sorgen. Ich kann mir vorstellen, dass Israel dem zustimmt, wenn die USA sich bereiterklären, ebenfalls Soldaten zu entsenden, und garantieren, dass keine neuen Waffen nach Gaza gelangen. Unter diesen Bedingungen ist es vorstellbar, dass das israelische Militär aus dem Gazastreifen abzieht.

In meinen Augen wäre es besser, sich aus Gaza zurückzuziehen. Und die einzige Militärmacht, der Israel vertraut und die an seiner Stelle die Sicherheitsverantwortung in Gaza übernehmen könnte, ist die US-Armee.

DIE FURCHE: Der Gaza-Krieg polarisiert weltweit – wie ist die Stimmung in der israelischen Gesellschaft?
Benziman:
Erstmals seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 fürchtet Israels Gesellschaft um die Existenz des Staates. Das hat das Land in den vergangenen 50 Jahren nicht mehr erlebt. Zwar hat das, was am 7. Oktober geschah, Israels Existenz nicht wirklich gefährdet – aber es geht um das Gefühl, das in der Bevölkerung vorherrscht. Trotz der Vielfalt von links und rechts, von säkular und religiös hört man seit dem Massaker keine anderen Stimmen als die, die Hamas zu eliminieren.
Das ist der Mainstream. Selbst diejenigen, die sich politisch Mitte-links verorten und sich für eine Zweistaatenlösung aussprechen, setzten primär auf die militärische Operation und erst sekundär darauf, über eine politische Lösung zu sprechen. Ich glaube, dass in der palästinensischen Gesellschaft dasselbe passiert. Denn wenn jetzt aufgrund des Abkommens zwischen Israel und der Hamas Palästinenser aus israelischen Gefängnissen entlassen werden und zurück ins Westjordanland und nach Ostjerusalem gehen, wird das die Hamas stärken. Es wird heißen, dass weder die palästinensische Autonomiebehörde noch die Fatah die Freilassung bewirkt haben, sondern die Hamas. Aus diesem Grund entfernen sich beide Seiten immer noch weiter voneinander. Auch verhärten sich die Fronten, wenn ein Konflikt intensiver, ein Krieg gewalttätiger wird. Grauzonen werden dann ausgeblendet.
Es geht nur noch um „uns gegen sie“, Gut gegen Böse. Die Menschen sind entweder pro-israelisch oder pro-palästinensisch – das ist nicht nur in Israel oder in Palästina beobachtbar, sondern auf der ganzen Welt. Diese Polarisierung trägt nicht zu einer besseren Zukunft bei. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Extremismus mit der Zeit etwas abnimmt und sich andere Stimmen Gehör verschaffen können.

Die Menschen sind entweder pro-israelisch oder pro-palästinensisch – das ist nicht nur in Israel oder in Palästina beobachtbar, sondern auf der ganzen Welt. Diese Polarisierung trägt nicht zu einer besseren Zukunft bei. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Extremismus mit der Zeit etwas abnimmt und sich andere Stimmen Gehör verschaffen können.

DIE FURCHE: Ist nach dem Angriff der Hamas und dem Krieg in Gaza eine Zweistaatenlösung noch realistisch?
Benziman:
Die Zweistaatenlösung ist auf lange Sicht die einzige Option. Nur wenn die Palästinenser ihren eigenen Staat erhalten, wird Israel in Frieden leben können. Die Ereignisse vom 7. Oktober haben diese Möglichkeit allerdings in weite Ferne gerückt. Selbst diejenigen, die daran glauben, sagen, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, bis wir auch nur ansatzweise wieder ein Vertrauen aufbauen können. Dennoch glaube ich nicht, dass es eine andere Lösung gibt. Auf Grundlage der saudischen Friedensinitiative müssten weitere arabische Staaten mit Israel Frieden schließen. Langfristig bleibt zu hoffen, dass die Palästinenser eine eigene Regierung bilden, die gemäßigter ist als die Hamas. Davon ausgehend gilt es dann, über einen zukünftigen Staat Palästina zu verhandeln.

DIE FURCHE: Das Oslo-Abkommen von 1993, das zum Ziel hatte, eine palästinensische Selbstverwaltung zu etablieren und die Beziehungen zwischen Israel und Palästina zu verbessern, gilt als gescheitert. Warum sollten Verhandlungen über einen Staat Palästina diesmal gelingen?
Benziman:
Oslo baute auf einen Fahrplan auf, der stufenweise abgearbeitet werden sollte. Zuerst erreicht man Stufe eins, dann Stufe zwei, dann lernt man, einander zu vertrauen, und irgendwann endet das Ganze mit einer Zweistaatenlösung. Das hat nicht funktioniert. Grund war die Vereinbarung, die Kernprobleme innerhalb des Prozesses auszuklammern: also nicht über den Status von Jerusalem zu sprechen, nicht über die Flüchtlinge – man glaubte, es würden sich von selbst Lösungen finden. Von nun an müssen wir von Anfang an das Ziel des Abkommens festlegen, sollten über alle Probleme reden und diese regeln.
Eines davon ist die Siedlungspolitik Israels: Im Westjordanland und Ostjerusalem leben knapp 600.000 Israelis in über 200 Siedlungen. Ja, diese Siedlungen sind sehr problematisch für eine Zweistaatenlösung. Israel hat seit 1967 diesbezüglich nie eine klare Politik verfolgt. Einerseits hat es das Westjordanland und den Gazastreifen nie annektiert. Andererseits hat es den Bau von Siedlungen vorangetrieben. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um Regierungen des politisch linken oder politisch rechten Spektrums handelte – sie alle haben Siedlungen gebaut.
In einer zukünftigen Zweistaatenlösung werden einige dieser Siedlungen bestehen bleiben. Im Austausch wird der palästinensische Staat in anderen Gebieten von Israel Land in derselben Größe erhalten. Andere Siedlungen wird man aufgeben müssen. Das wird nicht einfach und zu großen Demonstrationen und Zusammenstößen innerhalb Israels führen. Ich glaube aber, dass das die einzige Möglichkeit ist. Zur Begleitung dieses Prozesses sollte eine internationale Truppe in die Region kommen. Diese kann Gewalt verhindern und gleichzeitig Israel dazu zwingen, den Bau neuer Siedlungen zu stoppen – oder zumindest die Ausweitung bestehender Siedlungen verhindern.

In einer zukünftigen Zweistaatenlösung werden einige dieser Siedlungen bestehen bleiben. Im Austausch wird der palästinensische Staat in anderen Gebieten von Israel Land in derselben Größe erhalten. Andere Siedlungen wird man aufgeben müssen. Das wird nicht einfach und zu großen Demonstrationen und Zusammenstößen innerhalb Israels führen. Ich glaube aber, dass das die einzige Möglichkeit ist.

DIE FURCHE: Gibt es etwas, das trotz all der Eskalation und den verhärteten Fronten hoffen lässt?
Benziman:
Blickt man auf die Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt, gibt es unterschiedliche Erzählungen. Folgende sehe ich in der Tat als hoffnungsvoll: Ohne den Oktoberkrieg 1973 hätten Israel und Ägypten kein Friedensabkommen unterzeichnet. Erst dieser Krieg brachte beide zu der Einsicht, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als miteinander zu sprechen. Ohne die erste Intifada (Auslöser für die gewalttätigen Unruhen war der Zusammenstoß eines israelischen Lastwagens mit zwei palästinensischen Taxis im Jahr 1987, Anm. d. Red.) hätten Israel und die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation, Anm. d. Red.) die Osloer Abkommen – so problematisch sie sind – nicht unterschrieben. Israel hätte sich im Jahr 2000 nicht aus dem Libanon zurückgezogen, wenn es den Terror der Hisbollah nicht gegeben hätte. Und ohne den Terror der Hamas wäre Israel 2005 nicht aus dem Gazastreifen abgezogen. Was ich damit sagen will: Es braucht in dieser Region allzu oft enorme Gewalt, um einen Wandel zu bewirken und die Akteure zu Dingen zu bewegen, die sie vorher nicht bereit waren zu tun. Im Falle Israels war die Antwort manchmal ein einseitiger Rückzug, wie aus dem Libanon oder dem Gazastreifen. In anderen Fällen kam es zu Friedensabkommen wie mit Ägypten. Daher könnte auch dieser Krieg zu der Einsicht führen, dass es eine große Veränderung benötigt.

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Yuval Benziman

Yuval Benziman ist leitender Dozent im „Programm für Konfliktforschung“ an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Yuval Benziman ist leitender Dozent im „Programm für Konfliktforschung“ an der Hebräischen Universität Jerusalem.

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