"Sharon ist Israels letztes Geschoß"

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Palästinensern und Israelis droht ein langer Abnützungskrieg. Die siebenmonatige Intifada hat die palästinensische Haltung gegenüber Israel wesentlich verhärtet.

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Palästinensern und Israelis droht ein langer Abnützungskrieg. Die siebenmonatige Intifada hat die palästinensische Haltung gegenüber Israel wesentlich verhärtet.

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Und wieder töten israelische Raketen und Gewehrsalven palästinensische Zivilisten; und wieder sprengt sich ein Palästinenser mit einem Auto in die Luft, um so viele israelische Zivilisten wie möglich mit sich in den Tod zu reißen. Der Teufelskreis des Grauens dreht sich in Palästina und Israel immer schneller und hinterlässt in der entsetzten Zivilbevölkerung blutende Wunden auf beiden Seiten.

Eine Delegation israelischer "Tauben" sprach beim Palästinenserchef Jassir Arafat in Gaza vor. Doch kein Ausweg aus der Gewalt zeichnet sich ab, keine Hoffnung, dass Israels Premier Ariel Sharon die jüngste ägyptisch-jordanische Friedensinitiative akzeptieren, dem darin geforderten Baustopp jüdischer Siedlungen auf palästinensischem Land zustimmen könnte; keine Anzeichen auch, dass Arafat ohne diplomatisches, politisches Entgegenkommen der Israelis die Palästinenser zu einem Ende der Gewalt aufrufen könnte, wie es die Regierung Sharon verlangt. In Israel selbst gerät Sharon ins Kreuzfeuer der Kritik, weil er sich im Umgang mit den Palästinensern auf die militärische Option beschränkt; weil sich die Brutalität israelischer Vergeltungsmaßnahmen als katastrophal kontraproduktiv erweist, und Sharon dennoch daran festhält.

Aus Sorge, die Bilder sterbender palästinensischer Kinder, zerstörter palästinensischer Häuser und einer verzweifelt darbenden Zivilbevölkerung könnten Israels sonst so effizientem Propagandakrieg international schwere Rückschläge zufügen, beschuldigen offizielle israelische Kreise nun die palästinensische Autonomiebehörde, den Hass zu schüren. In Wahrheit freilich ähneln beide Seiten einander in ihrer kriegerischen Rethorik. Und unter den Palästinensern brodelt der Zorn über die hohe Zahl der Opfer israelischer Militärschläge, auch ohne feurige Erklärungen ihrer Führer. "Jeden Tag müssen wir Menschen begraben. Wer kann in dieser Situation noch die Bevölkerung kontrollieren", bemerkte Arafat in einem seltenen Interview.

Mindestens 450 Palästinenser kamen seit Beginn der "Al-Aksa-Intifada" im September 2000 ums Leben, rund 15.000 wurden verwundet, etwa 80 Israelis starben. Die monatelange Blockade der Palästinensergebiete, durch die die Israelis den Widerstandsgeist zu brechen hoffen, hat das Gesundheitssystem zerstört, laut UN-Organisation für die Palästinenser, UNWRA, eine "schwere humanitäre Krise" ausgelöst. Die Arbeitslosigkeit in Westjordanien und Gaza erreicht fast 50 Prozent. Schon sagt die Weltbank einen Rückgang des palästinensischen Pro-Kopf-Einkommens für dieses Jahr um 27 Prozent im Schnitt voraus, wobei die Verarmung in Gaza weit größere Ausmaße erreichen wird. Die palästinensische Zivilbevölkerung ist erschöpft. Dennoch hat die Qual der Intifada eine Verhärtung der Position gegenüber Israel bewirkt. Weitgehend unbeachtet von internationalen Medien haben diese sieben Monate zu einer radikalen Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses in Palästina geführt.

Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen schon in die Zeit vor jenem Schicksalstag im September 2000 zurück, als der damalige Oppositionsführer Sharon durch seinen provokanten Besuch in der Al-Aksa-Moschee von Jerusalem den palästinensischen Aufstand vom Zaum brach. Schon am Vorabend dieser neuen Intifada ließ sich eine bis dahin nicht gekannte politische Apathie der Palästinenser erkennen. Laut Umfragen ging zwischen 1994 und 1999 das parteipolitische Engagement drastisch zurück. Der Anteil jener Palästinenser, die sich zu keiner politischen Richtung bekannten, hatte sich in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. Besonders deutlich zeigte sich dieser Trend unter den gebildeten Schichten. Zugleich ließ sich bei der jüngeren Generation ein schwindendes Interesse an Information und der wachsende Wunsch nach Auswanderung erkennen.

Arafat im Hintergrund Kein Zweifel: die palästinensische Nationalbewegung rutschte im Verlauf der im Osloer Friedensprozess seit 1993 vorgesehenen Übergangsperiode in eine schwere Krise. Die Autonomieabkommen verstärkten unter den Palästinensern das Gefühl, dass sich ihre Situation - ökonomisch, sozial, wie politisch - nicht verbessere, dass der Friedensprozess nicht nur keinen Abbau des Besatzungsregimes gebracht, sondern die Bevölkerung mehr denn je den israelischen Behörden ausgeliefert habe. Seit sieben Jahren wird die palästinensische Führung in den Augen der Bevölkerung mit dem Argument, der Friede sei dringend geboten, regelrecht erpresst, steht sie unter enormem Druck, ein ungünstiges Kräfteverhältnis hinzunehmen und damit letztlich jede Einflussfreiheit aufzugeben.

Vor diesem Hintergrund gewinnt der triumphale Empfang, den die palästinensische Bevölkerung Arafat im Juli 2000 bereitete, nachdem er sich im amerikanischen Camp David dem Druck des damaligen US-Präsidenten Clinton nicht beugte und nicht weitreichende palästinensische Zugeständnisse insbesondere in der Frage der Souveränität Jerusalems akzeptierte, besondere Bedeutung. "Endlich hat Arafat den Mut gehabt, vor aller Welt Nein zu sagen", erläutert ein palästinensischer Intellektueller. Die Monate der Intifada bestätigen die Entwicklung dieser Gefühle. Zwar, so ergab eine Meinungsumfrage des angesehenen "Jerusalem Media and Communications Center" (JMCC), will die Mehrheit der Palästinenser immer noch durch Verhandlungen einen Frieden und Koexistenz mit Israel erreichen. Trotz der Eskalation der Gewalt und der tiefen Animosität zwischen israelischer und palästinensischer Führung (Sharons Klassifizierung von Arafat als "unverbesserlichen Terroristen") halten nur 30 Prozent der befragten Palästinenser den Friedensprozess für tot, doch sie wollen sich die Bedingungen weniger denn je diktieren lassen. Zugleich unterstützen 74 Prozent Selbstmordoperationen gegen Zivilisten in Israel und die überwältigende Mehrheit setzt sich für die Fortsetzung der Intifada ein, die für sie die einzige Hoffnung auf eine Veränderung des Kräfteverhältnisses bietet.

Als Folge der wachsenden Entschlossenheit zum Kampf für Freiheit und eigenen Staat bröckelt die einst totale Dominanz der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), der Fatah-Bewegung und ihres Führers Arafat über die palästinensische Gesellschaft mehr und mehr ab. Nicht nur den Israelis fällt auf, dass sich Arafat zusehends im Hintergrund hält. Israelische Sicherheitquellen meinen gar, führende Kräfte der Intifada hielten bewusst wichtige Informationen vom Palästinenserchef fern. Arafat bestätigte selbst dieser Tage, dass er "wenig" spreche. Manche Beobachter halten dies für eine bewusste Strategie, um Israel über den beabsichtigen Charakter der Intifada im Ungewissen zu lassen: ist sie ein spontaner Volksaufstand, oder von Arafat und seiner Autonomiebehörde (PA) gesteuert? Bleibt sie ein Wiederstand weitgehend mit Steinen oder wird sie sich militarisieren?

Offiziell beschränkt sich die PA darauf, den wachsenden Volkszorn zur Kenntnis zu nehmen. In der Praxis liegt die Formulierung und Durchführung der nationalen Politik nicht mehr voll in ihren Händen. Drei Hauptgruppen kristallisieren sich in der neu entstehenden politischen Landschaft Palästinas heraus: neben Arafats PA gewinnen unabhängige Kräfte innerhalb der Fatah zunehmend an Einfluss; sie stehen in Allianz mit anderen links-nationalistischen Gruppen, die gemeinsam mit Islamisten nach einer "Militarisierung der Intifada" rufen, Waffen an die Bevölkerung verteilen wollen; und schließlich gibt es noch einen Teil in der palästinensischen Gesellschaft, der immer mehr an Bedeutung gewinnt, indem er sich entschlossen gegen die autokratische Regierungsform Arafats wendet und nach Mitbestimmung in einem demokratischen System ruft. Die Fatah-Unabhängigen, Nationalisten, Islamisten und Demokraten beschränken Arafats Tendenz, Entscheidungen allein zu treffen. Sie zwingen den alternden Palästinenserführer, der noch 1993 in Oslo geheim über das Schicksal seines Volkes verhandelte und dieses dann vor vollendete Tatsachen stellte, die Wünsche der Palästinenser mehr als bisher zu berücksichtigen.

Abnützungskrieg Speerspitze des Widerstandes gegen Israel bilden nicht mehr die Islamisten, sondern eine sich zunehmend Arafats Einfluss entziehende Fatah. Umfragen der vergangenen Monate ergaben, dass nur 13 Prozent der palästinensischen Bevölkerung mit Hamas und Jihad sympathisieren, während diese Bewegungen Anfang der neunziger Jahre noch ein Drittel der Bevölkerung hinter sich scharen konnten. Unter den palästinensischen Fraktionen ist nun eine heftige Diskussion über die künftige Strategie und die Ziele der Intifada entbrannt. Während die Mehrheit Selbstmordaktionen gegen Zivilisten in Israel - da kontraproduktiv - ablehnt, treten starke Kräfte für direkte Attacken gegen israelische Soldaten und jüdische Siedler ein. Durch eine derartige Eskalation sollte Israel gezwungen werden, seine Vision von einem "palästinensischen Protektorat" unter seiner Hegemonie aufzugeben und einen neuen Friedensweg einzuschlagen, der die Palästinenser zu wahrer Unabhängigkeit führen würde.

"Sharon ist Israels letztes Geschoß, bis es begreift, dass es nur Frieden und Sicherheit oder Besatzung und Siedlungen geben kann, aber niemals beides", analysiert Marwan Barghouti, Fatahs mächtiger Generalsekretär des Westjordanlandes. Für Barghouti und viele seiner Mitstreiter ist die Intifada ein nationaler Befreiungskampf. So steuern Palästinenser und Israelis auf einen blutigen Abnützungskrieg zu, der Sharon vor ein großes Dilemma stellen wird. Antwortet er weiterhin mit Gewalt und versucht, die PA zu vernichten, schafft er einen neuen, radikaleren und kompromissloseren Gegner vor seiner Haustür und riskiert einen Krieg ohne Ende.

Die Autorin ist Nahostkorrespondentin.

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