Drei Gefangene, für die zwei Kriege geführt wurden

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Ein halbes Jahr sind die drei israelischen Soldaten Gilad Shalit, Ehud Goldwasser und Eldad Regev jetzt entführt - zwei Kriege wurden um ihre Freilassung gekämpft, vergeblich. Mittlerweile werden tausende palästinensische Gefangene im Austausch für das Leben der drei geboten - und auch das Schicksal von Israels Regierung hängt am Wohl und Wehe dieser Männer.

Das hat uns bis jetzt 500 Tote gekostet", sagte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas bei seiner Generalabrechnung mit der regierenden palästinensischen Hamas-Bewegung am Wochenende. Mit "Das" meinte Abbas die Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit am 25. Juni dieses Jahres - eine Aktion, die schon vor einem halben Jahr die große Kluft zwischen den Palästinenserorganisationen zeigte. Denn während Abbas und seine Fatah-Bewegung auf Verhandlungen setzten, torpedierten Hamas-Extremisten diese Friedensbemühungen mit Raketenangriffen und vor allem mit der Shalit-Entführung, die einen regelrechten Krieg provozierte: Im Norden des Gaza-Streifens krochen damals Hamas-Anhänger durch einen Tunnel Richtung Israel, überfielen einen Militärposten, töteten zwei Soldaten und verschleppten Gilad Shalit. Israel reagierte schnell und hart: Zwei Tage nach der Entführung wurde in einer nächtlichen Militäraktion nahezu die komplette Hamas-Führung, 64 hohe Funktionäre, Minister, Parlamentarier und Bürgermeister im Westjordanland festgenommen und wegen Beteiligung an Terroraktivitäten vor Gericht gestellt.

Gewitter, kein Sommerregen

Und Israel startete die Militäroffensive "Sommerregen" zur Befreiung des 19-Jährigen. Dezidiert ausgeschlossen hat Israels Regierung zu der Zeit noch "Verhandlungen mit diesen Erpressern". Eine Einschätzung, die schon damals kaum jemand glauben wollte. Am 2. Juli sagte der israelische Politikwissenschafter Yossi Alpher gegenüber Agence France Press: "Nach jeder Entführung hat Israel erklärt, es werde nicht nachgeben, um dann früher oder später einen hohen Preis zu zahlen." Und der Hamas-Experte Shaul Mishal prognostizierte am selben Tag gegenüber der Deutschen Presse Agentur: "Die Chance, dass die Palästinenser uns den verschleppten Soldaten nach Drohungen Massenfestnahmen, gezielten Tötungen und Militärschlägen zurückgeben, sind äußerst gering - stattdessen galoppiert Israel in ein neues Tief der Beziehungen zu den Palästinensern." Die Analysen der beiden Politologen bewahrheiteten sich: Der Angriff "Sommerregen" entpuppte sich zwar als fürchterliches Gewitter, das eine Spur der Verwüstung durch Gaza zog, der Soldat Shalit blieb aber wo und was er war: versteckt und gefangen.

Achillesferse für Regierung

Und während sich an der Gaza-Front bereits ein Debakel für Israel abzeichnete, wurde am 12. Juli mit der Entführung von zwei weiteren israelischen Soldaten, diesmal an der Grenze zum Libanon, eine zweite Front eröffnet - wieder mit der Folge Krieg: Die israelische Luftwaffe legte den Libanon in Schutt und Asche; Israel selbst wurde zum Ziel von Raketenangriffen, tausende Menschen starben und die libanesische Regierung geriet in einen politischen Strudel - allein die Entführer, die Hisbollah-Miliz, hat dieser Krieg gestärkt; und die Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev sind immer noch gefangen.

Und seither vergeht "kaum ein Tag", sagt Ari Rath, der frühere Chefredakteur der Jerusalem Post, im Telefongespräch mit der Furche, an dem die drei gefangenen Soldaten nicht in den israelischen Nachrichten vorkommen: "Das ist ein ständiges Thema, das alle im Land bewegt", ergänzt Rath, "und das ist auch die Achillesferse für diese Regierung." Sollte es Premierminister Ehud Olmert nicht gelingen, "Gott behüte", die drei Soldaten heil zurück zu bringen, meint Rath, hängt seine Regierung an einem seidenen Faden, "denn in Israel ist man sehr empfindlich für das Schicksal dieser Menschen".

Gelegenheit vermasselt

Rath wirft Olmert vor, eine gute Gelegenheit zur Freilassung zumindest von Gilad Shalit "vermasselt" zu haben: Während des Kriegs im Libanon wollte sich die Hamas von der Hisbollah distanzieren und wäre zu einem Gefangenenaustausch bereit gewesen, sagt der gebürtige Wiener, der vor den Nazis nach Israel geflüchtet ist. Doch diese Chance ist lange vorbei - und "je länger man jetzt noch wartet", ist Rath überzeugt, "desto höher wird der Preis".

Ende November veranstaltete ein Zusammenschluss jüdischer Vereine eine Großkundgebung in Brüssel. Auf einer Tribüne am Platz Schuman, vor der EU-Kommission und dem Europäischen Rat, baten Verwandte und Freunde der drei Gefangenen um internationale Hilfe und beteten um Gottes Beistand.

"EU forderte zuwenig!"

"Es gibt eine Hoffnung, für deine Nachkommen - Spruch des Herrn: Die Söhne werden zurückkehren in ihre Heimat." Dieses Zitat aus dem Buch des Propheten Jeremia war das Motto der Kundgebung, bei der ein Teilnehmer im Gespräch mit der Furche seine Kritik an der Europäischen Union nicht zurückhielt: Sein Vorwurf lautet, dass die EU dem Libanon große Summen zum Wiederaufbau zugesagt hat, ohne auf die Freilassung von Ehud Goldwasser und Eldad Regev zu pochen.

Ehuds Vater, Schlomo Goldwasser, wäre schon froh, zumindest ein Lebenszeichen von seinem Kind zu erhalten: "Ich muss der Realität ins Auge sehen, ich weiß, dass sie bei der Entführung verletzt wurden. Ich will nur wissen, dass mein Sohn lebt und die notwendige medizinische Versorgung bekommen hat", sagte Schlomo Goldwasser, der mit seiner Frau zur Solidaritätsveranstaltung für seinen Sohn nach Brüssel gekommen war. "Ich möchte glauben, dass die Hisbollah sie menschlicher behandelt, als sie uns behandelt - indem sie uns jedes Lebenszeichen vorenthält."

Wenige Tage später, am 6. Dezember, zitierte die israelische Zeitung Haaretz auf ihrer Internetseite einen israelischen Militär unter Wahrung seiner Anonymität, der die Möglichkeit, dass die beiden Männer nicht mehr am Leben sind, sehr hoch einschätzte. Vater Goldwasser darauf: "Wir machen weiter, so als ob sie am Leben sind."

Palästinenser im Gefängnis?

Während die Familien der Gefangenen weiterhin bangen und hoffen, verurteilt Khaled Mashaal, der Leiter des Politbüros der Hamas in Damaskus (siehe Grafik), die Einseitigkeit und Parteinahme der internationalen Staatengemeinschaft für die entführten Israelis: "Wenn ein Held aus Gaza einen israelischen Soldaten entführt, der gekommen ist, um seinen Sohn zu töten, dann machen sich alle auf die Beine. Aber wenn sich Tausende Palästinenser im israelischen Gefängnis befinden, darunter Frauen und Alte, zuckt keiner mit der Wimper." Und gegen die internationale Reisediplomatie zur Befreiung Shalits wettert Mashaal: "Damaskus, das im Belagerungszustand war, hat sich zu einer Pilgerstätte für Vermittler aus aller Welt entwickelt, nur wegen diesem Hund, Gilad Shalit, aber keiner kümmert sich um sechs Millionen palästinensische Flüchtlinge, die in die ganze Welt zerstreut sind."

Unterstützung erhält der Hamas-Chef vom US-Linguisten Noam Chomsky. Der 78-jährige streitbare Professor aus Massachusetts wirft den westlichen Medien vor, einseitig zu Gunsten Israels zu berichten. So seien am Tag vor der Entführung von Gilad Shalit zwei Zivilisten aus Gaza - Osama und Mustafa Muamar - von der israelischen Armee gekidnappt worden. Aber darüber hätten westliche Medien, so Chomskys harscher Vorwurf, nicht oder nur sehr wenig berichtet. Chomsky: "Nach westlichen Standards ist es offenbar okay, wenn die Entführung von Zivilisten von ,unserer Seite' begangen wird. Wenn aber einer ,unserer' Soldaten am nächsten Tag entführt wird, ist das ein verabscheuungswürdiges Verbrechen, für das die ganze palästinensische Bevölkerung bestraft werden muss."

"Tausende für einen Sarg"

"Wir denken nicht an die andere Seite", erklärt die Jerusalemer Friedensaktivistin Angela Godfrey-Goldstein der Furche den Hintergrund für diese unterschiedliche Wahrnehmung: "Die Armee ist für die meisten Israelis das Rückgrat des Landes - deswegen identifizieren wir uns so mit unserem Militär; und deswegen sind wir auch so sensibel, wenn unseren Soldaten etwas zustößt - weil jeder und jede denkt: Die machen das für uns, das könnte mein Sohn, mein Bruder, mein Ehemann sein." Und Godfrey-Goldstein auf die Frage, warum soviele palästinensische Gefangene für einen Israeli getauscht werden: "Weil die meisten Israelis davon überzeugt sind, dass einer von uns mehr wert ist als Tausend von ihnen - das klingt zynisch, aber wir denken so."

Der israelische General Elazar Stern beklagte kürzlich sogar diese "Übersensibilität" hinsichtlich des Verlusts eigener Soldaten, denn diese "schwäche Israels Fähigkeit zum Krieg". Doch Ari Rath glaubt nicht, dass sich in dieser Hinsicht was ändern wird und ändern soll: "Wir haben immer getauscht - immer Hunderte, Tausende für einen, und manchmal haben wir sogar tausende Gefangene für einen Sarg getauscht."

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