Kiew poor - © Foto: Alexander Chekmenev, n-ost

Ukraine: Die Armen vor dem Goldenen Tor

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Dort, wo in Ländern wie Österreich staatliche Unterstützungsangebote für Obdachlose greifen, springen in der Ukraine freiwillige Helfer ein. Seit Beginn der Corona-Pandemie sind die strukturellen Probleme besonders sichtbar.

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Dort, wo in Ländern wie Österreich staatliche Unterstützungsangebote für Obdachlose greifen, springen in der Ukraine freiwillige Helfer ein. Seit Beginn der Corona-Pandemie sind die strukturellen Probleme besonders sichtbar.

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Die Restaurants am Kiewer Hauptbahnhof haben ihre Außenbereiche wieder geöffnet. „11h-22h“ steht auf der Tür eines spärlich besuchten Chinarestaurants. Hip-Hop tönt aus Boxen vor dem Eingang. Auf dem Boden markieren rote Streifen den Abstand, den die Gäste wegen Covid-19 zueinander einhalten sollen. Nur zehn Meter weiter drängen sich zwei Dutzend Männer und Frauen mit Schutzmasken vor einem Tisch. Sie versuchen, dunkelgraue Schlafmatten und Kleidungsstücke zu erhaschen, Sachspenden, die freiwillige Helfer an diesem Samstag im Mai an die Obdachlosen verteilen. „Ihr blockiert den Platz“, herrscht sie ein Ordnungshüter an. „Haut ab!“

Mit ihren 1,80 Metern sticht Natascha aus der Gruppe heraus. Sie zieht eine schwarze und eine weiße Spitzenbluse aus dem Kleiderknäuel, entfernt sich wieder vom Tisch und grüßt im Vorbeigehen einige Männer, die an den Mauern eines Treppenabgangs lehnen. Wenig in Nataschas Gesicht erinnert an das Mädchen mit den langen, rot-braunen Haaren und den fröhlichen blauen Augen, das bis vor zwei Jahren Fotos von sich auf Facebook geteilt hat. „It’s my life“, steht neben einem ihrer Profilbilder. Auf einem anderen Foto kniet sie lachend hinter roten Tulpen.

Zerstörte Träume

Natascha habe wenig Glück im Leben gehabt, sagt Anna Davydenko-Nemchenko. Sie lernte die junge Frau als Mitarbeiterin der Organisation „Bez Doma“ kennen, zu Deutsch: „Obdachlos“. Vieles im Leben der 26-Jährigen passe in das Profil obdachloser Menschen, sagt Anna. Natascha hat familiäre Probleme, ist suchtkrank und HIV-positiv. Sie wuchs in Berdjansk am Asowschen Meer auf, als Tochter eines trinkenden und gewalttätigen Vaters. Er ist der Grund, warum sie nicht nach Hause zurückkehren kann. Mit 20, direkt nach ihrem Studium, zog die junge Frau in die Hauptstadt. „Ich wollte Filmemacherin werden“, erzählt Natascha. Stattdessen arbeitete sie als Babysitterin in einem Hotel.

In Kiew machte die junge Frau ihre ersten Drogenerfahrungen, Speed, Ecstasy, und lernte auf einer Geburtstagsfeier ihren zwölf Jahre älteren Ehemann kennen. Das Paar ging nach Russland, zog auf die mehr als 7000 Kilometer entfernte Insel Sachalin. „Ich hatte drei Jobs, ich war finanziell abgesichert“, sagt Natascha. Wie sehr sich ihr Leben bald ändern würde, konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. „Ich habe nichts Schlechtes über meinen Mann zu sagen. Er war respektvoll zu mir. Aber er hat mich mit HIV angesteckt.“

Vor etwas mehr als einem Jahr kehrte Natascha alleine nach Kiew zurück und ist seither obdachlos. Sie erzählt von Geld, das ihr gestohlen wurde. Von Erinnerungslücken. Von neuen Freunden, die ihr dabei halfen, einen
Schlafplatz in der Nähe des Hauptbahnhofes zu finden. „Natascha, gib nicht auf. Alles wird gut, wir stehen das zusammen durch. Ich will stolz auf dich sein.“ Anna Davydenko-Nemchenko redet auf die müde wirkende junge Frau ein und drückt ihr eine Dose mit den Tabletten für die HIV-Behandlung in die Hand. Sie sei noch jung und könne ihr Suchtproblem mit der richtigen Hilfe in den Griff bekommen, erklärt die freiwillige Helferin.

Wo in Ländern wie Österreich staatliche Hilfsangebote für Obdachlose greifen, springen in der Ukraine freiwillige Helfer ein. Sie füllen die Lücke, die Staat und Familie hinterlassen, verteilen Lebensmittel und Kleidung und machen damit genau das, was Ruslan Svitly, Direktor der Abteilung für Sozialpolitik in Kiew, kritisiert. Anfang Mai warnte er in einem Interview: „Wer Essen an Obdachlose verteilt, sorgt dafür, dass es mehr von ihnen gibt.“ Die Anzahl jener, die in Kiew ohne Wohnung leben, wird offiziell auf 5000 beziffert. Hilfsorganisationen gehen von mehr als 20.000 aus. Zugleich gibt es nur ein einziges städtisches Obdachlosenheim, mit 150 Betten.

Einen Plastiksack in jeder Hand, den Rücken gekrümmt, schleppt sich Ihor auf eine der frisch grün lackierten Sitzbänke auf dem Maidan, dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Stadt. Gegenüber, im Postamt, hat der 67-jährige Mann einst selbst gearbeitet. Er sagt, das imposante Gebäude mit den hohen Säulen im Stil der stalinistischen Nachkriegsarchitektur sehe noch aus wie damals. Sein Leben hat sich dagegen stark verändert.

Der Abstieg

„Ich wurde 1953 in Kiew geboren, im selben Jahr, als Stalin starb.“ Ihor kramt einen Ausweis aus seiner Wachsjacke, die ihm um die Schultern hängt. Sein Gesicht wirkt knochig. „Stalin starb am 5. März und ich wurde am 23. März geboren. Meine Mutter sagte, sie habe nicht geweint, weil sie mit der Geburt beschäftigt war.“ Bis vor fünf Jahren lebte Ihor im Apartment seiner Mutter, mitten im Stadtzentrum. Doch seine Pension reichte nicht mehr aus, um die Strom- und Gasrechnungen zu bezahlen. Er habe sich einen Mitbewohner gesucht, 20 Jahre jünger als er selbst. Dann begannen die Probleme. Ihor erzählt, er habe seine Wohnung verloren, nachdem zwei Männer mitten in der Nacht bei ihm auftauchten, ihm drohten und 8000 Dollar verlangten. „Ich habe beschlossen, das Apartment zu verkaufen. Mein Mitbewohner hat einen Käufer organisiert. Sie haben mich reingelegt. Ich habe das Geld nie bekommen.“

Anastasia Riabchuk kennt viele solcher Geschichten. In der Ukraine wurden die meisten Wohnun-gen in den 1990er Jahren von den damaligen Hausbewohnern privatisiert. Auf diese neuen Hausbesitzer, ältere Menschen oder alleinstehende Männer mit Alkohol- und Drogenproblemen, haben es kriminelle Gruppen seither abgesehen, erklärt die Professorin für Soziologie an der Kiew-Mohyla-Akademie. „Manchmal treten sie als Sozialarbeiter auf, geben den Leuten Lebensmittel und sagen dann: Bitte unterschreiben Sie hier ein Papier. Dokumente, welche die Eigentümerschaft übertragen. Es gibt viele Menschen, die deshalb auf der Straße landen.“

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