"Unsolidarische Länder STRAFEN"

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Die Flüchtlingskrise zeigt, dass es in der EU eine stärkere Sozial- und Wirtschaftsunion bräuchte, meint Europaabgeordnete Evelyn Regner.

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Die Flüchtlingskrise zeigt, dass es in der EU eine stärkere Sozial- und Wirtschaftsunion bräuchte, meint Europaabgeordnete Evelyn Regner.

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Die Flüchtlingskrise bringt die Mankos der EU ans Licht - auch in punkto Sozialstandards. Nach aktuellen Einschätzungen und möglichen Lösungen hat DIE FURCHE die Europaabgeordnete Evelyn Regner (SPÖ) befragt.

DIE FURCHE: Die EU-Kommission erwartet bis 2017 die Ankunft von weiteren drei Millionen Flüchtlingen in Europa. Von den rund 160.000, die derzeit in der EU aufgeteilt werden sollten, ist das gerade einmal bei rund 100 Flüchtlingen passiert. Was nun?

Evelyn Regner: Es ist eine Verlogenheit, wenn die Staats- und Regierungschefs Geldbeträge versprechen, die dann aber nie fließen. Gerade die Visegrád-Staaten versuchen sich rauszuwinden aus ihrer Verantwortung. Diese Mentalität, "Wir sind die armen Kommunismus-Opfer, haben jetzt Anspruch auf alle EU-Fördermittel - und ihr müsst was machen wegen der Flüchtlinge!", zeigt, dass in den mittel- und osteuropäischen Ländern der Transformationsprozess seit dem Fall des Eisernen Vorhangs noch nicht abgeschlossen ist. Eine Vergangenheitsbewältigung im Sinne der persönlichen Verantwortung einzelner hat nicht stattgefunden. Diese historischen Themen werden relevant, wenn es darum geht, wie man mit anderen Menschen umgeht, denen es schlechter geht, als es einem selbst geht.

DIE FURCHE: Innerhalb der EU ist man ja von einheitlichen Sozialstandards weit entfernt. Nun steht der Vorwurf im Raum, die Flüchtlinge würden in jene Länder mit den besten Sozialsystemen drängen. Wie sehen Sie das?

Regner: Die Menschen flüchten natürlich in jene Länder, wo es bereits Verwandte gibt. Es ist ein Faktum, dass es in den Ländern Mittel- und Osteuropas, die hinter dem Eisernen Vorhang lagen, keine Immigranten-Tradition gibt -nicht nur, weil sie ärmer sind. Ich bin felsenfest überzeugt, dass Flüchtlinge vorher keine Vergleichsstudien über Sozialleistungen lesen. Es ist vielmehr ein Schwarmverhalten, die Leute rennen einfach drauf los. Das zeigt auch das Beispiel Deutschlandsberg, wo sich einige Flüchtlinge hin bewegten, weil sie dachten, das wäre in Deutschland. Die Leute gehen natürlich dorthin, wo sie das Bild haben: Hier gibt es eine Zukunft. Prügelnde Polizisten oder Soldaten wie in Ungarn oder Griechenland wirken abschreckend.

DIE FURCHE: Zum Vorwurf der Wirtschaftsflüchtlinge: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) kritisiert, dass die Flüchtlinge nicht in den Balkanstaaten bleiben, sondern aus materiellen Gründen nach Österreich und Deutschland wollen. Eine sinnvolle Kritik?

Regner: Dass sie sich die Flüchtlinge vom Leibe halten möchte, ist aus ihrer Perspektive durchaus nachvollziehbar. Die Integration von Flüchtlingen ist eine unfassbare Aufgabe - finanziell, gesellschaftlich, etc. Dennoch muss man auch ehrlich sein und sich die Realitäten vor Ort vor Augen halten. Wir haben selbst aus den Balkan-Ländern Asylanträge. Das sind Länder, die selber erst dabei sind, sich irgendwie zu stabilisieren.

DIE FURCHE: Es gibt von Schweizer Ökonomen die Idee von eigenen, europaweiten Sozialsystemen für Flüchtlinge, die spendenfinanziert und ortsunabhängig funktionieren, etwa ein Sozialsystem für alle Syrer in Europa.

Regner: Wie sollte das funktionieren? In allen europäischen Ländern gibt es nationale Sozialversicherungssysteme, manche steuerfinanziert, manche beitragsfinanziert, manche sind ein Mix aus öffentlichen und privaten Beiträgen. Es ist illusorisch zu glauben, dass die Gelder für die Arbeitslosen-, Kranken- oder Unfallversicherung von Menschen aus Syrien langfristig durch Spenden oder Beiträge finanziert werden können.

DIE FURCHE: Was also übrig bleibt, ist eine europäische Finanzierung?

Regner: Durchaus. Für die Griechenlandkrise haben wir einen neuen Topf geschaffen, das könnte man auch für die Flüchtlinge machen. Das bisher Geleistete ist nicht genug. Die Frage ist: Wer zahlt für einen solchen europäischen Flüchtlingsfonds? Dann hat man die Steuerzahler-Diskussion. In Österreich gibt es ja die Mindestsicherung, die Bevölkerung ist zu einem hohen Prozentsatz sozialversichert. Aber in Ungarn, Polen oder Rumänien heißt es dann: "Für uns reicht das Geld nicht, aber für die Flüchtlinge reicht es?" Das kann nicht funktionieren.

DIE FURCHE: Solange Flüchtlinge von der öffentlichen Hand finanziert werden, wird es auch Sozialneid geben.

Regner: Man muss sich die verschiedenen Sozialleistungen anschauen: In Österreich werden für Flüchtlinge etwa medizinische Leistungen aus humanitären Gründen erbracht. Die Arbeitslosenversicherung jedoch nicht, denn dafür muss man die Bedingungen erfüllen. Im Endeffekt wird man bei unterschiedlichen Sozialhilfeleistungen landen. Es wäre eine gute Idee, europäische Standards anzulegen, aber das wäre nicht praktisch umsetzbar wegen der 28 verschiedenen Systeme. Wichtiger wird es sein, die aufgenommenen Menschen in die bestehenden nationalen Sozialsysteme überzuführen. DIE FURCHE: Es bleibt also dabei, dass ein paar wenige reichere und offenere Staaten, de facto Österreich, Deutschland und Schweden, das Gros der Flüchtlinge aufnehmen und ihre Sozialsysteme bereitstellen.

Regner: Faktum ist, die Flüchtlinge werden trotz Quote weiter in jene Länder strömen, die zur Aufnahme bereit sind, aber man darf auch nicht Länder auslassen wie Großbritannien. Jene Länder, die nicht ausreichend motiviert sind, muss man verpflichten, auch mit Strafen bei den EU-Förderungen, etc.

DIE FURCHE: Nachdem es keine gemeinsame Linie gibt, droht gar eine Spaltung der EU?

Regner: Derzeit ist die Gefahr schon sehr groß. Wenn sich an der österreichisch-deutschen Grenze die Behörden trotz gemeinsamer Sprache misstrauen, ist das schon eine Zerreißprobe. Wenn der oberösterreichische Landeshauptmann alle Augen zudrückt, damit die Flüchtlinge nur ja nicht im Land bleiben, sondern an einem stillen Grenzübergang weitergeschickt werden, ist das nicht korrekt. Das trifft natürlich auf Länder wie Ungarn noch viel stärker zu.

DIE FURCHE: Viele Menschen - vor allem weniger gut ausgebildete - fürchten wegen der Flüchtlinge um ihre Jobs. Zu Recht?

Regner: Schon bei der Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer galt es, unsere hohen arbeitsrechtlichen Standards zu verteidigen, damit es nicht zu Lohn- und Sozialdumping kommt. Ansonsten würde die heimische Bevölkerung unter Druck gesetzt werden, unter schlechteren Bedingungen mehr arbeiten zu müssen, in die Teilzeit gedrängt zu werden etc. Diejenigen am unteren Ende der Wohlstands- und Rechte-Skala, von den Alleinerzieherinnen bis zu den gering Ausgebildeten, spüren den Druck der Migranten am stärksten. Deswegen war es schon bei der EU-Osterweiterung aus Arbeitnehmer-Sicht wichtig, Bildungsabschlüsse anzuerkennen statt Löhne zu drücken.

DIE FURCHE: Gerade die Syrer haben generell ein gutes Ausbildungsniveau. Was bedeutet das für den heimischen Arbeitsmarkt?

Regner: Gerade jene, die die Digitalisierung zu spüren bekommen, deren Jobs in zwei, drei Minijobs zerlegt werden, sollen keinen zusätzlichen Druck zu spüren bekommen. Denn damit spielen ja Unternehmen. Die Industriellenvereinigung wäre natürlich dafür, dass die Leute hier gleich arbeiten dürfen. Das würde ja nicht zu einem Kollektivvertragslohn passieren, sondern die Flüchtlinge wären in ihrer Lage erpressbarer. Deshalb müssen wir versuchen, Sozialstandards abzusichern. Man muss sich genau anschauen: Welche Fertigkeiten sind vorhanden? Natürlich sollen junge Leute gleich in die Lehrlingsausbildung einbezogen werden, aber es müssen Regeln angewendet werden. Das ist wichtig für jene, die drohen, verdrängt zu werden. Es ist wichtig, auf jene einzugehen, die diese Ängste berechtigt oder auch unberechtigt haben.

DIE FURCHE: Anhand der Flüchtlingskrise zeigen sich die strukturellen Mängel der EU. Machen nun die pro-europäischen Fraktionen Druck in Richtung einer Strukturreform, damit die europäische Zusammenarbeit ausgebaut werden kann?

Regner: Die klassische EU-Integration voranzutreiben wird immer schwieriger. In Kernfragen der Integration wäre es sinnvoll, entsprechend dem Vorschlag des französischen Wirtschaftsministers Macron, eine engere Integration bei vielen wirtschaftlichen und sozialen Themen zu schaffen, eine Art europäische Wirtschaftsregierung. Alle Mitgliedsstaaten mitzunehmen ist dabei - so wie es derzeit ausschaut - leider nicht möglich.

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