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YOUSSEF BEN KHEDDA / REVOLUTIONÄR, REFORMER - STAATSMANN?

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Die Umbildung der provisorischen algerischen Regierung hat einen Mann an die Spitze getragen, dessen Name in der Öffentlichkeit kaum präzisere Vorstellungen erwecken konnte. Nach anfänglicher Verblüffung vertieften sich sowohl die Akteure wie die Zuschauer der politischen Szene in die Biographie des neuen Ministerpräsidenten, von der sie Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen erhofften: Welche Gruppe der algerischen Freiheitsbewegung hat sich durchgesetzt? Wendet sich der FLN dem kommunistischen Lager zu? Sind die Verhandlungen mit Frankreich nunmehr endgültig gescheitert?

Soll die Wirtschaft eine unabhän gigen Algerien sozialisiert werden?

Youssef Ben K h e d d a, mit 41 Jahren ein Mitglied der jüngeren Generation algerischer Politiker, kann bereits auf ein Vierteljahrhundert politischer Tätigkeit zurückblicken. Seine Kameraden aus der muselmanischen Schule in Blida, mit denen zusammen er 1932 die Slogans von Messali Hadj, „Algerische Republik, algerische Politik“, an die Fassaden schrieb, sitzen auch heute neben ihm: Saad Dahlab, jetzt Außenminister, und Mohamed Yazid. An der Universität Algier bildet er sich, wie Ferhat Abbas, zum Apotheker aus, aber die Freizeit gehört der muselmanischen Pfadfinderbewegung, die sich zu einer regelrechten Kaderschule der algerischen Nationalisten entwik- kelte und mehrere namhafte Führer hervorbrachte, und der „Algerischen Volkspartei“ beziehungsweise der „Bewegung für den Triumph der Freiheit in Algerien“ von Messali Hadj, deren Generalsekretär er mit dreißig Jahren wird, ln dieser Position gehört er zu den ersten, die sich gegen die Diktatur des „Bärtigen“ auflehnen. Er kommt in Kontakt mit dem „Revolutionären Komitee der Einheit und der Aktion“, das unter der Fahne des FLN die Insurrektion entfesselt. Im November 1954 wird er festgenommen und im April 1955 wieder entlassen, weil ihm nichts Bestimmtes zur Last gelegt werden kann.

Im FLN spielt Ben Khedda sofort eine gewichtige Rolle. Mit Ramdan

A,bane, Saad Dahlab, Belkacem Krim und Ben M’hidi gehört er 1956 dem C. E- E. (Comitė de co- Ordination et d’execution), der obersten Körperschaft des FLN, an. ln der „Schlacht um Algier“ gegen General Massu übernimmt er die Aufgaben eines Verbindungsmannes der Kampfgruppen unter sich und zur Öffentlichkeit, eine Position, die beträchtliche Behendigkeit und Beweglichkeit erfordert und ihn auf abenteuerlichste Weise mehrmals der Gefahr der Verhaftung aussetzt.

Einige Wochen nach der Flucht versammelt sich der zweite Nationalrat der algerischen Republik in Kairo. Der C. E. E. wird um 14 Köpfe erweitert und nimmt damit die erste provisorische algerische Regierung voraus, die ein Jahr später ebenfalls in Kairo gebildet wird. In ihr ist Ben Khedda von Anfang an als Minister für soziale Fragen vertreten. Reisen führen ihn nach Syrien, Jugoslawien, Indonesien und China, wobei er in Peking zum zehnten Jahrestag der chinesischen Revolution jene vielzitierte Rede hält: „Mit der Unterstützung des kommunistischen China und der anderen antiimperialistischen Länder wird das algerische Volk, das mehr denn je entschlossen ist, seine Unabhängigkeit zu erzwingen, siegreich sein.“

Anläßlich der dritten Session des algerischen Nationalrates im Winter 1959/60 macht sich Ben Khedda zum Sprecher einer Minderheit, die eine erhöhte Mobilisierung der

Massen, eine Straffung der Organisation, die Sozialisierung der Wirtschaft und den Neutralismus als außenpolitisches Programm fordert. Im Zeitpunkt des französischen Verhandlungsangebotes werden diese Thesen jedoch als inopportun zurückgestellt, um das Gespräch mit Paris nicht zu belasten. Ben Khedda verzichtet deshalb auf seinen Sitz im Kabinett.

Wenn er heute als Ministerpräsident in die provisorische algerische Regierung zurückkehrt, kann dies nichts anderes bedeuten als die klare Absage an die bisher von Ferhat Abbas vertretene, konziliantere Linie. Die in den letzten Tagen veröffentlichten Kommuniques und Erklärungen der provisorischen Regierung lassen ganz deutlich erkennen, daß sich die Gesichtspunkte Ben Kheddas durchgesetzt haben. Es sind die Gesichtspunkte der jungen Generation der Revolutionäre, die jeder „Verbürgerlichung“ abhold ist, sich aber nach wie vor zu Gesprächen bereit zeigt. Ihr Ziel ist nicht mehr allein die nationale Unabhängigkeit, sondern — verbunden damit — auch die Revolutionierung des wirtschaftlichen und sozialen Systems. Jede zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Algerien erscheint damit unter weit strengeren Voraussetzungen als bisher. Die Pariser Börse hat deshalb diesen Wechsel mit einer Baisse der algerischen Wertpapiere quittiert.

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