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Neue Oper für alle

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Von pessimistischen abendländischen Musikbetrachtern kann man ab und zu die apodiktischen Behauptungen hören: „Die Oper ist tot!“ „Eine Funkoper gibt es nicht!“ Solche Stimmen können aber nicht verhindern, daß wir vielleicht alle an die Lebenskraft der Oper glauben und die Oper lieben, nicht nur trotz, sondern sogar wegen aller Unwahr-scheinlichkeiten, die dieser Kunstform anhaften. Auf diese visuelle Komponente muß die Funkoper verzichten, was wohl als der wesentliche Unterschied zwischen Oper und Funkoper bezeichnet werden kann. Die Daseinsberechtigung der Funkoper möchte ich aber nicht so begründen, daß sie sozusagen eine Oper für Blinde ist, sondern daß sie eine Oper für ein bestimmtes, aus der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenkendes Publikum ist, nämlich für die Rundfunkhörer.

Der Rundfunkhörer hat sich daran gewöhnt, nicht nur Konzerte, Vorträge oder Hörspiele, sondern auch Opern ohne visuelle Beigabe zu verstehen. Die Sendung bekannter Opern im Funkprogramm findet immer wieder viele begeisterte Hörer, und durch diese Sendungen wurde allmählich eine Hörerschaft herangebildet, die eine besonders für den Funk komponierte Oper genau so aufnimmt wie eine im Senderaum aufgeführte Theateroper. Wenn man aber eine Oper ohne jeden Hintergedanken an bühnenmäßige Verwendung schreibt, dann kann man den Nachteil von ausgefallener visueller Darstellung ausnützen durch Heranziehung' von all den Möglichkeiten, die der Funk insbesondere und die Elektroakustik im allgemeinen bietet. Man muß dann aber auch versuchen, sich umzustellen und nicht länger den Klang vom Rundfunklautsprecher als eine mehr oder weniger geglückte Annäherung zum Originalklang im Studio werten, sondern umgekehrt alles, was im Studio klingt, nur als Vorbereitung für den Zielklang im Lautsprecher betrachten. — In diesem Falle ist es einerlei, ob der Zielklang von Musikinstrumenten und Stimmen oder durch Tonbandmanipulationen erzeugt wird.

Mit dem Film hat die Funkoper gemein, daß man durch einmalige Heranziehung von ersten Kräften Spitzenleistungen erzielen kann. Und so wie der Film eine fast unbegrenzte visuelle Illusion durch Photographie, Trick oder Montage bringen kann, so kann die Funkoper eine fast unbegrenzte akustische Ausstattung erhalten. Losgelöst vom Zwang, alle Ereignisse in einen sichtbaren Rahmen zu projizieren, kann die Funkoper sich ungehemmt in Zeit und Raum bewegen mit der Geschwindigkeit der menschlichen Phantasie. Meiner Meinung nach Hegt in der organischen Verwertung von all diesen akustischen Möglichkeiten die Daseinsberechtigung der Funkoper als Gattung, und in der Existenz von einer Rundfunkhörerschaft die Daseinsberechtigung der Funkoper als Erscheinung. Im lahre 1954 beauftragte mich der holländische Rundfunk, eine Funkoper zu schreiben, in der ich alle damaligen technischen Möglichkeiten der Hilversumschen Anlagen benutzen sollte. Ich wählte das Leben des Orest als Stoff und hatte damit gleich die Möglichkeit, die elektronisch entmenschlichten Stimmen der Erinnyen als Dramatis Personae organisch zu verwenden. Erwähnen möchte ich noch die Verdopplung von Chören, Stimmen und Instrumenten in gleicher oder verschiedener Bandgeschwindigkeit, die Verwendung von elektrischen Filtern, die Tonbandmontage, den Klangvolumregler als dynamischen Gestalter, rückläufige Klänge, Hineinmischung von konkretem Schall, von magnetischem oder natürlichem Echo und Benutzung von eingeschalteten Mikrophonen, um auf bestimmte Klänge „Spotlights“ werfen zu können.

Ob die Funkoper durch solche technischen Experimente die Hörerschaft abschreckt oder aber sie gar anzieht? Aus eigener Erfahrung kann ich mitteilen, daß ich während der Komposition und noch viel mehr während der Tonbandverarbeitung damit rechnete, beim durchschnittlichen Rundfunkhörer keinerlei Anklang zu finden. Da im Vergleich mit meinem „Orest“ die wildesten zeitgenössischen experimentellen Gedichte wie freundliche Märchen erscheinen könnten, wird man meine Erwartung begreifen. Dazu kommt noch das akademische altgriechische Thema und, nicht zu vergessen, die „moderne“ Musik, von der man sagt, daß sie die Hörer abschreckt. Um so größer war meine Ueberraschung nach den beiden Sendungen, die in Holland stattfanden, als ich eine große Anzahl positiver Urteile aus den verschiedensten Kreisen von Rundfunkhörern empfing. Ich meine deshalb feststellen zu dürfen, daß die Aufnahmebereitschaft des Funkoperpublikums durch technische Erneuerungen eher gesteigert als verringert wird.

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