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Was man nicht sieht, muß man hören

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Bevor wir über „technisierte Oper“ sprechen können, müssen wir uns einigen, was eine Oper ist. Historisch gesehen ist die Oper die Erzählung einer Geschichte (dies ist das Wesentliche) durch sichtbare Handlung und Musik, welche Gefühle ausdrückt, letztere von Worten begleitet oder auch nicht. Wir können jedoch aus Fehlern vergangener Opernaufführungen lernen — die aufeinanderfolgende Vorherrschaft der Rezitative, der Ausstattung und des Balletts, der Arie, des Sängers, des Dirigenten und heute des akademischen Musikers, der glaubt, daß die Partitur über allem stehe. Wir dürfen uns heute nicht vom Techniker beherrschen lassen, denn alle großen und erfolgreichen Opern stellten dem Theaterpublikum im wesentlichen menschliche Schicksale auf unterhaltsame Weise dar.

Der Techniker soll jedoch seinen Platz neben den anderen Künstlern einnehmen und an der Opernproduktion mitarbeiten — insbesondere bei der ältesten Art der technisierten Oper, nämlich der Rundfunkoper, die des visuellen Elementes entbehrt. Zuerst leitete die BBC die Rundfunkoper durch eine kurze Inhaltsangabe ein. Es ist jedoch schwer, diese auf einmal zu erfassen, auch kann sie Einzelheiten der Aufführung nicht erklären. Dann wurde ein Sprecher verwendet, gleich einem Kommentator, der beschrieb, was nicht gesehen werden konnte. Seine Stimme ist jedoch ein nicht zu vermeidender Fremdkörper.

Heute gehen die Bestrebungen des BBC dahin, Opern in einer sich selbst gestaltenden Weise darzustellen, während ein Sprecher bloß den Beginn einer neuen Szene beschreibt. Wenn die Szenen jedoch kurz sind, so ist es besser, einen Sprecher zu verwenden, der seine Stimme dramatisch anpassen kann. So wird zum Beispiel der Szenenwechsel im ersten

Malko sagte: „Lieber Beschwerden der Echtheitsfanatiker als Langeweile bei den Hörern.“ Der Beginn dieser Oper mit fünf rivalisierenden Chören wurde durch Streichung unnötiger Ausrufe verständlicher gemacht. Gleichzeitig wurde jeder Gruppe ein Solosänger an die Spitze gestellt, da Solostimmen im Rundfunk deutlicher zu hören sind als viele Stimmen auf einmal.

Was tun jedoch, wenn eine Szene bloß durch Musik und Mimik, ohne Worte, dargestellt wird? In diesem Falle müssen wir uns ebenso rücksichtslos verhalten wie es Verdi mit Shakespeare tat. Da eine Ballettszene im Rundfunk deshalb wie eine Konzertsuite klingt, streichen wir diese. Ist sie wichtig für die Handlung, dann fügen wir Worte hinzu. Zum Beispiel der Beginn von Wolf-Ferraris „Sly“: das Erwachen des betrunkenen Mannes und dessen Erstaunen über seine Umgebung wurde in der BBC-Aufführung durch Hinzufügen von Gesang verständlicher gestaltet, während die Originalfassung bloß stumme Handlung, begleitet vom Orchester, vorsieht.

Viele Effekte dürfen zu Recht durch technische Mittel erzielt werden: ein langweiliger Sänger erhielt eine nuancenreiche Stimme mittels Manipulation von vier Händen auf der Schalttafel. In „Herzog Blaubarts Burg“ wurde das Oeffnen der Türe und der Blick auf die weiten Länder Blaubarts durch ein dröhnendes Echo erzielt, erhöht durch das plötzliche Verstummen des Echos, sobald ludith ihre Eindrücke wiedergibt. Nebenbei bemerkt, war ihr hohes C in Wirklichkeit ein B, um einen Ganzton gehoben — ein hier erlaubter Trick, jedoch gleichzeitig ein Warnungszeichen im Hinblick auf all die ausgezeichneten Langspielplatten, welche, zunächst auf Band aufgenommen, vollkommen polierte, aber,

Die Oper im Rundfunk

Akt von Strawinskys „The Rake's Progress“ („Eines Wüstlings Weg“) von einem Sprecher durchgeführt, dem das Gelächter der Schauspieler in der darauffolgenden Szene, entsprechend dem Original, zu Hilfe kommt.

Im letzten Akt derselben Oper wurden die schwierigen Szenenwechsel auf folgende Weise im Rundfunk dargestellt: der dunkle Friedhof verwandelt sich in einen Frühlingsmorgen durch einfaches und naheliegendes Einfügen einer Vogelstimme in die neue Musik, und aus dieser Szene entwickelt sich ein Irrenhaus mittels der Stimme des Sprechers, unterstützt von Geräuschen der neuen Akteure — der Irren —, welche jedoch abklingen und schließlich ganz verschwinden, sobald die Atmosphäre genügend skizziert ist. Die Musik spielt nunmehr allein weiter.

Obwohl Musiker gegen das Hinzufügen von Effekten in eine gegebene Partitur sein mögen — und in England sind viele Opernliebhaber der Meinung, daß die Musik über allem stehe, nicht wissend um die Praxis und Lehren der großen Opernkomponisten —, so sind doch viele Stellen einer Oper ohne das visuelle Element ausdruckslos. Auch ist es möglich, daß die Originalpartitur für eine Rundfunkaufnahme zu überladen ist: eine große Anzahl von Stimmen oder eine komplizierte Instrumentierung können über den Aether die Wirkung eines Durcheinanders hervorrufen. In Prokofieffs „Die Liebe zu den drei Orangen“ wurden viele Stellen gestrichen oder geändert: wie der Dirigent Nicolai vom Ganzen aus gesehen, unmenschlich wirkende Stimmen wiedergeben.

Die Schalttafel kann ebenfalls die Tiefenwirkung eines Sängers erhöhen, sobald er vom Mikrophon entfernt steht: so ertönt die Nachtigall in Strawinskys „Die Nachtigall“ zunächst aus der Ferne und dann aus der Nähe. Für mehr melodramatische Effekte ist „Der Freischütz“ ein gutes Beipsiel. Da es sich um ein Singspiel handelt, ist es leicht, zu den vorhandenen Versen beschreibende Worte hinzuzufügen. Der Beginn der Wolfsschluchtszene in der Originalfassung ist recht und billig für jeden, der die Oper aus dem Theater kennt, im Rundfunk jedoch ist sie vielleicht verständlicher durch zusätzliche, passende Worte von Caspar.

Aus solchen Tongemälden kann sich die technische Oper weiterentwickeln: und wenn weder dem Techniker noch dem Musiker, der nur die Partitur bewertet, absolute Macht in die Hände gegeben wird, so kann die technisierte Oper sehr gut neues Leben in die traditionsgebundene Oper bringen und neuerlich aus ihr eine Unterhaltung für das breite Publikum schaffen.

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