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Altösterreichischer Totentanz

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Der erste Gang. Von Friedrich Georg Jünger. Carl Hanser Verlag, München. 283 Seiten. Preis 12.60 DM.

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Der erste Gang. Von Friedrich Georg Jünger. Carl Hanser Verlag, München. 283 Seiten. Preis 12.60 DM.

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Die letzten Tage jenes Völkerstaates, in dem die Menschheit so lange das Vorbild glücklicher Symbiose voneinander grundverschiedener Nationen bestaunen konnte, bis der Teufel des selbstmörderischen Uebernationalismus in sie alle gefahren war dieses tragische und in der milden Luft des sanften Gesetzes den Oberflächlichen nur allzu leicht tragikomisch anmutende Thema hat viele Gestalter aufgerufen: Gewaltige, wie Karl Kraus, große, wie Joseph Roth, Musil, Csokor, Bruno Brehm, und ungezählte kleinere. Nun hat der lockende Stoff auch Friedrich Georg Jünger gereizt, aus Erinnerung an den ersten Weltkrieg zu schöpfen. Das Verhältnis zum Geschilderten ist ähnlich wie in Ernst Jüngers „Strahlungen". Der Beobachter blickt von der Höhe seiner Marmorklippen auf die Brandung ringsumher, als Künstler, als Forscher, als Außenschwebender, den dieser erste Gang nicht im Herzensgründe angeht. Bei den Oesterreichern, die wir eben genannt hatten, war dies anders. Sie sind, nicht nur örtlich, mit dabei gewesen; sie haben die Katastrophe nicht nur miterlebt, sondern auch sie miterlitten. Es ist ihnen das „passiert", wie Musil in seinem unsterblichen Nachruf auf Kakanien sich ausdrückt, daß sie ihr altes, großes, herrliches Vaterland verloren haben, und wem es just passiert, dem bricht das Herz dabei; er mag hernach sich selbst und ändern die

Maske der grausamsten Satire und der bittersten Anklage Vorhalten, das fließende Herzblut schimmert dennoch durch.

Nicht bei Friedrich Georg Jünger, dem Hannoveraner, der über den Bodensee hinweg auf das nun klein gewordene Rumpfösterreich schaut, gewissermaßen mit einem Riesenmikroskop, das hinein in die nahe Vergangenheit sieht. Da erscheinen, ins Unmeßbare vergrößert, Einzelbilder, die als lose Impressionen zu einem Ganzen vereint, die ungeheure, ungeheuerliche Enthaupt- und Staatsaktion als Panorama zeigen. Der Dichter betrachtet Menschen, Dinge und Geschehnisse aus der Perspektive des Kavaliers, aus der jenes letzten Rittmeisters, mit dessen hochadeligen Namen das Buch beginnt. Wohl traten in der absteigenden Folge auch Angehörige anderer Stände auf, über Kleinadel und diesem gleichzuordnende Offiziere, Bürger, Unteroffiziere, Bauern, Juden, und für eine Weile gelangen wir hinauf in den Olymp, wo der müde Zeus, Franz Joseph im spätesten Greisen- alter, pflichtbewußt bis ans Ende der Götterdämmerung verharrt und einige schon dem Tode nahe Ex-Unsterbliche herumgeistern, sogar als fesche Geister; doch der eigentliche Standort jenes AOK, des Armee-Oberkommandos, von dem aus der Verfasser als Stabschef den Aufmarsch seiner Gestalten lenkt, ist ein Schloß der sogenannten ersten Gesellschaft.

So wird es nicht wundernehmen, daß er zum Beispiel für die, nur flüchtig gestreiften böhmischen, oder sagen wir lieber tschechischen, Dinge ebensowenig tiefere Einsichten mitbringt, wie für die polnischen, obgleich er denen auf Grund ersichtlicher Lokalkenntnis im weiland Königreich Galizien und Lodomerien gewachsener schiene. Nicht einmal für die deutschsprachigen Krön- länder ist dieser seigneurale Gesichtspunkt verlassen; bezeichnend für ihn dünkt uns die Schilderung des Wiener Austromarxisten. Billigen wir aber dem Autor zu, als einen der Aspekte der Wirklichkeit den des aristokratischen Kavallerieoffiziers gewählt zu haben — c’est un point de vue comme un autre —, dann dürfen wir, endlich, unserer Bewunderung für das, einer pointillisti- schen Technik zum Trotz, großartig einheitliche und abgerundete Kunstwerk Ausdruck verleihen, das ihm geglückt ist. Es überzeugt zwiefach, ver möge der wahrhaft adeligen Sprachmagie und dank der Echtheit des souverän beherrschten Materials, aus dem da lebende Menschen, geknetet ins Dunkel der Vergangenheit, hinabgesunkene Situationen wieder heraufbeschworen wurden. Mit wissender

Kühle, freilich ohne innere Glut, sind Landschaften gemalt, ist der Rahmen eines Kaleidoskops von sich schnell wandelnden Szenen umrissen. Gegenüber dieser Gesamtleistung und ihrer Treue zur Aura, in der die Geschehnisse abrollen, fällt kaum ins Gewicht, daß der am Geringfügigen haftende Kritiker nebensächliche Verstöße in den Realien, Irrtümer in der, mit Koketterie philologische Echtheit vorspiegelnden Schreibweise der Eigennamen zu rügen hätte (z. B. S. 119 zweimal Langut statt Lancut sowie Lezaisk statt Lezaisk und Przeworks statt Przeworsk), daß die Szlachta eines z verlustig geht. Eher sollten wir Entgleisungen bedauern, die nicht dem unzureichenden Korrektor, sondern dem Verfasser anzulasten sind. Wenn er in Wien von Droschkenkutschern, statt von Fiakern, von Haltestellen statt Standplätzen spricht (während die Beiseln besser zum Lokalkolorit passen), wenn er den Generalstabschef der k. u. k. Armee Hötzendorf statt Conrad heißt, dann sind das psychologische Beweise für den Kundigen, daß Jünger nicht von innen heraus die altösterreichische Atmosphäre erspürte, wie dies bei einem in ihr mit Selbstverständlichkeit sich Bewegenden natürlich wäre. Um so glänzender ist die Einfühlungskraft zu nennen, die es dem fremden Dichter und Seher gestattete, an allem Wesentlichen seine gestaltende Kunst zu erproben. Daß diese freilich erlahmen muß, wo Klugheit und Sprachbeherrschung durch die herzliche Teilnahme ergänzt werden sollten, das erfahren wir vordringlich am Vergleich der zwei Schilderungen einer Audienz bei Franz Joseph, hier von Jünger, dort von Joseph Roth im „Radetzkymarsch" dargeboten. An der einen wird der Historiker mit Anerkennung loben, das mag, das muß so und nicht anders „eigentlich gewesen sein", sämtliche Details sind korrekt und die Erzählung ist untadelig. Zum ändern: ich weiß nicht, was der Außenstehende dazu meint, dem Altösterreicher aber kommen die Tränen in die Augen, und es klingt im Gemüt leise, wehmütig auf die Haydn- Hymne „Gott erhalte".

Fassen wir unser Urteil zusammen: Ein mit vollkommener Sprachmei terschaft geschriebener, mit ungewöhnlichem Geschick komponierter historischer Roman, der eine Epoche, eine mannigfache Landschaft, komplizierte Menschen und verwirrend paradoxe Schicksale einprägsam zeichnet; das Werk eines großen, am romantischen Stoff seine klassische Vollendung bekundenden Schriftstellers.

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