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Beginn der Infantokratie

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Aütoritätskrisen hat es immer gegeben und wird es sicherlich auch Ummer geben. Dennoch ist das, was wir in der Gegenwart als ziel- und schrankenloses Aufbegehren eines Teiles der Jugend erleben, völlig verschieden von ähnlichen Erscheinungen in der Vergangenheit. Diesem Aufbegehren der Jugend steht eine völlige Tatenlosigkeit der Erwachsenen gegenüber, die sich gegen dieses Aufbegehren nicht zur Wehr setzen und sich auch noch oft in würdelosen Selbstbezichtigungen gefallen. Autorität ist ein Grundpfeiler jeder Gesellschaftsordnung. Sie ist ein dem Zustande der Ordnung immanentes Prinzip und in keiner Weise vom Belieben des Menschen abhängig. Deshalb muß die Autorität, wo sie gefährdet ist, immer wieder gestützt werden.

Vielfach wurde der Wohlstand für

den Übermut der Jugend verantwortlich gemacht. Das mag da und dort zutreffen, der Kern der Sache ist aber nicht der Übermut der Jugend, sondern das Unbehagen, das sie erfaßt hat. Dieses entspringt wieder dem Vmformungsprozeß, dem sich die ganze Gesellschaftsordnung gegenübersieht. Die bestehenden politischen Parteien halten vielfach krampfhaft an alten Vorstellungen fest, teils aus Selbsterhaltungstrieb, teils, weil einfach das Neue noch keine greifbaren Formen angenommen hat und die Politiker auch oft bei bestem Willen in ihrer geistigen Bewegungsfreiheit durch unklare Einsicht gehemmt sind. Die Jugend, der man eine leidenschaftslose Beurteilung dieser Realität nicht zumuten kann, ist naturgemäß ungeduldig und wittert hinter dem verlegenen Konservativismus der poli-

tischen und geistigen Autoritäten nicht Verlegenheit, sondern Verlogenheit, die sich mit der Maskerade abgetaner Zeiten den Schein der Seriosität zu wahren sucht. Die* wäre alles nicht so arg, wenn nicht die Erwachsenen in mißverstandener Loyalität diesem Drängen freien Lauf ließen, ja durch ihr Schweigen das Verhängnis noch beschleunigten. Aber diese Untätigkeit der Erwachsenen zeitigt noch andere nicht sehr positive Früchte. Der berühmte Satz, die Jugend sei die Zukunft des Volkes, wird in diesem Zusammenhang immer wieder mißdeutet. Seinem Sinn nach sagt er nichts anderes, als daß die Jugend von heute einmal die Erwachsenen von morgen sein werden. Die Mißdeutung dieses Satzes besteht nun darin, daß durch sie die Jugend zum bestimmenden Element des Volks-

ganzen gemacht wird. Damit werden aus Führenden Dienende, aus Lernenden Belehrende, aus Bittenden Forderer. Politische Parteien versuchen die Jugendlichen, die oft noch kein reifes politisches Denken haben, mit der Herabsetzung des Wahlalters zu fangen, Professoren schließen Verträge mit Studierenden, Minister verhandeln mit Mittelschülern. Freilich geschieht dies alles oft nicht aus Sorge um die Zukunft, sondern einfach aus Mangel an Mut. Leider wird ja auch die Zahl der Eltern, die selbst keine vernünftigen Maßstäbe mit ins Leben bekommen haben, immer größer. Kann dieser betrübliche Zustand ständig so weitergehen? Höchste Autorität im Rechtsstaate sind die Gesetze. Solange eine gewählte Volksvertretung Gesetze gibt, so-lange unabhängige Instanzen über deren Anwendung wachen, solange muß niemand Sorge haben. Somit ist ein klares Bekenntnis zur Autorität ein Gebot der Stunde. Der amorphe Zustand, besonders im Erziehungswesen, sollte unverzüglich behoben werden, sonst gibt es in Kürze keine Erziehung mehr, sondern nur mehr

amorphe Jugendliche. Die Römer haben für den Vorgang der Bildung das anschauliche Wort e-rudire geprägt, das soviel wie das Herausführen aus dem Rohzustand bedeutet. Dies ist eine Aufgabe der bereits Erzogenen und ohne Autorität, ohne klare Scheidung von Fertig und Unfertig nicht möglich. Jugendliche sollten, bevor sie diskutieren, erst viel gehört haben und im bescheidenen Rahmen mit dem Diskutieren beginnen. In England, dem klassischen Land des Dialogs und des Parlamentarismus werden die Jugendlichen im Angesichte der Autorität langsam in die Kunst des Diskutierens eingeführt.

All dies sind scheinbar harte Worte. Aber sie sollten doch einmal offen ausgesprochen werden. Anderenfalls wird das „Jahrhundert des Kindes“, als das es zu seinem Beginn von einer Schwedin hoffnungsvoll bezeichnet wurde, an seinem Ende ein .Jahrhundert der Kinder“ sein. Ein Zeitalter der Infantokratie, wie man bereits — wieder aus Schweden — warnend vernehmen konnte.

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