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Die Stunde der Weltreligionen

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Wie stehen wir zur Religion? Von Arnold J.Toynbee. Europa-Verlag, Zürich-Stuttgart-Wien. 385 Seiten.

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Wie stehen wir zur Religion? Von Arnold J.Toynbee. Europa-Verlag, Zürich-Stuttgart-Wien. 385 Seiten.

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Arnold J. Toynbee hat in den letzten Jahren im anglo-amerikanischen und deutschen Raum manch herbe Kritik von Seiten erbitterter Kollegen erfahren, die dem Universalhistoriker ein wenig vergrämt und manchmal nicht ohne Neid (der Neid ist ein Hauptmotiv wissenschaftlicher und anderer Kämpfe) ob seiner Popularität nachrechnen, wie viele Einzelphänomene er falsch sehe, nicht lichtig beurteile. Zudem hat seine politische Stellungnahme zu dieser und jener Zeiterscheinung die alte Tatsache eindrucksvoll illustriert: bedeutende Köpfe sind unangenehm, unbequem, und dies weit mehr für ihre Freunde, Kollegen und Glaubensgenossen als für fernstehende Beobachter, die sich leichter ein abgewogenes Urteil erlauben.

Das hier vorliegende Werk (leider unter unpassendem Titel erscheinend, es heißt im Original „An Historian Approach to Religion“), behandelt konkret die Bemühung eines Universalhistorikers, die Weltlage der Weltreligionen im allgemeinen und des Christentums im besonderen, in den Blick zu bekommen. Es wird ebenfalls manchen Widerspruch erregen. Darauf ist Toynbee selbst gefaßt, der in seinem Vorwort erklärt: „Ich möchte Fragen aufwerfen, nicht Dogmen prägen.“

Es sind harte Wahrheiten, Tatsachen, die Toynbee zumal dem europäischen Christen vorstellt. Eindrucksvoll zeigt er auf, wie im 17. Jahrhundert in Westeuropa die geistig regsten Menschen sich der Naturwissenschaft und später der Technik zuwenden, weil sie müde sind, haßmüde: der hundertfünfzigjährige Religionskrieg, der Fanatismus in den Kirchen und Konfessionen des 16. und 17. Jahrhunderts läßt im Raum der Religion keine Begegnung und keine freie Forschung zu. Sprat, der erste Sekretär und erste Historiker der Royal Society, der bald Weltruhm erlangenden ersten europäischen naturwissenschaftlichen Gesellschaft von Rang, hält 1667 diese aufregende Neuheit fest: „Nicht am wenigsten verdient die Royal Society Lob dafür, daß sie, die eine Vereinigung von Händen und Geist der Menschen sein wollte, sie einander nun sogar auch mit den Herzen nahegebracht hat. Denn wir haben hier ein dem englischen Volke ungewohntes Bild vor Augen. Angehörige verschiedener Parteien und Schichten haben den Haß begraben und sich zur einträchtigen Förderung der gleichen Arbeiten zusammengefunden. Hier haben der Soldat, der Handwerker, der Kaufmann, der Edelmann, der Höfling, der Geistliche, der Presbyterianer, der Papst, der Anhänger der Freien sowohl wie der der Staatskirche ihre verschiedenen Berufs- und Konfessionsbezeichnungen abgelegt und sich in gegenseitiger Uebereinstimmung ihrer Bemühungen und Bestrebungen ruhig zusammengefunden .. .“

Toynbee sieht dabei scharf eine Kehrseite dieses Phänomens: durch die Hinwendung des Geistes und der Geister einseitig zu den Naturwissenschaften ignoriert Westeuropa seit 300 Jahren den Kampf gegen die Erbsünde (S. 196). Es gibt unseres Wissens keinen Historiker von Weltruf heute, der so energisch und nüchtern, ganz ohne Phrase wie Toynbee immer wieder auf das Wirken der Erbsünde in der Geschichte aufmerksam macht. Toynbee sieht sie vor allem auch in den Religionen und Kirchen und im europäischen Christentum als eine Macht auftreten, die das Leben, die Liebe, den Geist tötet. Toynbee sieht im Absolutheitsanspruch der höheren Religionen ein Gift der Ueberhebung (bes. S. 175 ff), der den Frieden unmöglich macht. „Selbst wenn es sich als wahr erwiese, daß die anderen Religionen weniger Wahrheit in sich bergen als unsere eigene, so hieße das noch immer nicht, daß ihnen gar keine Wahrheit innewohnt; und die Wahrheit, die sie vielleicht besitzen, kann gerade die sein, welche unserer eigenen Religion fehlt“ (S. 363). „In der Welt, in der wir heute leben, müßten die Anhänger der verschiedenen lebenden Religionen ihr gegenseitiges religiöses Erbe bereitwilliger dulden, achten und ehren, weil in unserer Generation kein Mensch lebt, der wirklich in der Lage wäre, zwischen seiner eigenen Religion und der seines Nächsten zu richten.“ Heute „treten alle lebenden Religionen in eine eingehende praktische Prüfung. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (Matth. 7, 20). Der praktische Prüfstein liegt immer und überall in ihrem Gelingen oder Versagen, den Seelen der Menschen die Herausforderungen durch Leiden und Sünde bestehen zu helfen. In dem Abschnitt der Weltgeschichte, in den wir nun eintreten, scheint es, als würde der fortgesetzte Fortschritt der Technik unsere Leiden schmerzhafter machen als je zuvor und unsere Sünden verheerender in ihren Auswirkungen. Das wird eine Zeit der Prüfung sein, und wir werden, wenn wir klug sind, ihr Urteil abwarten“ (S. 364).

Ueberaus eindrucksvoll konfrontiert Toynbee aus persönlicher Erfahrung und Begegnung sieben höhere Religionen, die sich im 20. Jahrhundert erstmalig begegnen: drei buddhistische Religionen (Hinayana-Buddhismus, Mahayana-Buddhismus und der nachbuddhistische Hinduismus Indiens), drei judäische Religionen (Judentum, Christentum und Islam) und den Zarathrustrismus (vgl. z. B. S. 334). Die Aufzeigung der Unterschiede, Gegensätze und Verwandtschaften dieser Religionen ist ein Meisterwerk. Toynbee fordert den europäischen Christen, nicht nur den Katholiken, oft zum Widerspruch heraus. Eben dieser Widerspruch wird aber nur dann einen guten Sinn haben, wenn er die Konfrontation mit den Tatsachen wagt, die Toynbee vorstellt, und mit den reifen Ueberlegungeri, die aus einem unleugbar christlichen Gewissen stammen. Im Geiste des Erasmus und der großen christlichen Humanisten bittet Toynbee die aufrechten und aufgeklärten Freunde des Christentums, doch das Wesentliche zu bedenken, zeigt aber gleichzeitig auf, wie schmerzlich der Prozeß der Unterscheidung ist, da fast alle Gläubigen aller Religionen Dinge für wesentlich halten, die es vielleicht gar nicht sind.

Das europäische Christentum wird einen überaus schmerzlichen Prozeß der Läuterung und Reifung durchmachen müssen, will es im guten Sinn in der kommenden Begegnung und Auseinandersetzung mit den anderen Weltreligionen bestehen. Dies und vieles andere zu bedenken, laden diese Vorlesungen des englischen Historikers ein, die von Jürgen von K e m p s k i sehr sorgfältig in ihrer deutschen Fassung hier vorliegen.

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