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Dieser „Weg“ ist kein Weg

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Der 1949 verstorbene Verfasser war ein sehr angesehener Facharzt für Nervenheilkunde in London und Mitbegründer der englischen Zeitschrift für Psychologie und Neurologie. Seine Studien hat er u. a. bei C. G. Jung, in Zürich, aber auch in Wien und Berlin betrieben. All das bedeutete (vor 1949) zweifellos eine beachtliche Empfehlung, im Bedarfsfalle Nicoll als Nervenarzt zu konsultieren. Für die Erklärung von Parabeln oder Wundern lesu dagegen reichen trotz gelegentlicher Platozitate (vgl. S. 55) seine theologischen Kenntnisse nicht aus. Vor allem machen sich der völlige Mangel einer halbwegs vernünftigen exegetischen Methode und eine krasse Unkenntnis der Verhältnisse in Palästina peinlich bemerkbar.

Dafür nur einige Beispiele: Daß genau 153 große Fische gefangen wurden (vgl. loh. 21, 11) oder daß Petrus „nackt“ war und dann sein Obergewand anzog, ehe er sich ins Meer warf (loh. 21, 7), ist nach Nicoll eine „so triviale und zugleich so sonderbare Einzelheit“ (S. 12?). daß man unmöglich annehmen könne. Johannes hätte die Szene als einfachen Tatsachenbericht seinen Lesern übe.mitteln wellen. Nicoll erklärt die Stelle so: „Petrus hatte Christus verleugnet... und war damit des wahren Glaubens entkleidet, deshalb' wird er hier als nackt hingestellt“ (S. 123). Daß in einem so kleinen Dorf wie Kana in Galiläa Jesus gleich rund 600 Liter Wasser in Wein verwandelt hätte, wäre „völlig abwegig“ gewesen (S. 54), so daß man unbedingt nach einer psychologischen Deutung suchen muß. Die Verwandlung von Wasser in Wein ist eben die „Entwicklung“, der Wein ist der „neue Mensch“ (S. 55), die Mutter Jesu bei der Hochzeit ist „die verbindende mittlere Ebene“ (S. 53) usw. Die für jeden einfachen Leser völlig klare Stelle Matth. 6, 3: „Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut“, deutet Nicoll ebenfalls sehr „hintergründig“. Er belehrt uns S. 91: „Die rechte Hand bedeutet eine höhere oder den Beginn einer höheren Ebene des Verstehens. Diese beiden Ebenen dürfen nicht vermengt werden, das heißt, man darf seine linke Hand nicht wissen lassen, was die rechte tut. Die linke Hand in die tiefere Ebene, die von der Eigenliebe beherrscht wild ...“ Nun ist es ja richtig, daß nicht nur z. B.

bei Homer, sondern auch beim Jüngsten Gericht nach Matth. 25, 33 die rechte Seite eine günstige, die linke eine ungünstige Situation bezeichnet. Doch darf man diese Symbolik nicht hemmungslos ausdehnen, denn die ähnliche Stelle von der „rechten und der linken Wange“ bedeutet nachweisbar nur so viel wie „die eine und die andere Wange“ (vgl. Matth. 5, 39 und Luk. 6, 29). Und genau so wird es sich mit den Händen beim Almosengeben verhalten haben. Daß einen Psychologen die ewig rätselhafte Gestalt des ludas interessiert; ist durchaus begreiflich und so wird sie, obwohl weder zu den Parabeln noch zu den Wundern Jesu gehörend (vgl. Titel), im Buche ebenfalls behandelt. Auch hier bleibt Nicoll seiner „psychologischen“ Deutung treu. „Christus wurde von Judas in einem ganz anderen Sinn als dem buchstäblichen verraten“ (S. 215), sonst wäre der ganze Bericht „nahezu unerklärlich“ (ebda). Der Ausdruck Wasser, aus welchem der Mensch bei der Taufe wiedergeboren wird, muß eine tiefere Bedeutung haben (vgl. S. 15), ja selbst der Schlaf, der die drei Jünger nach der Besteigung des Berges Tabor überkam (Luk. 9, 32), war „kein gewöhnlicher Schlaf“ (S. 159), da es ja noch Tag gewesen sei... Aus diesen wenigen wahllos herausgegriffenen Beispielen sieht man deutlich das Rezept, nach welchem Nicoll in der Regel arbeitet und das S. 53 so formuliert wird: ..... man muß sich völlig vom Sinnlichen — von der Ebene der wörtlichen Bedeutung —

freimachen, wenn man auch nur etwas von dem Glanz dieser psychologischen Bedeutung erfassen will.“ Sowohl Benedikt XV. als auch Pius XII. haben in ihren Bibelenzykliken vor der verhängnisvollen Mißachtung des Literalsinnes gewarnt und die seriöse protestantische Bibelwissenschaft ist durchaus der gleichen Meinung. Aber Nicoll weiß von all dem nichts und statt (mit Hilfe von Kommentaren usw.) sich zunächst einmal in das Verständnis des biblischen Wortlautes einzuarbeiten, wählt er einen kürzeren Weg. Zensuren wie: nahezu unverständlich, unbegreiflich, sonderbar, trivial u. a. werden sehr freigebig ausgeteilt. Gelegentlich zitiert Nicoll auch den griechischen Urtext, z. B. auf den Seiten 147, 167 und 224. (An der erstgenannten Stelle ist die Form allerdings falsch.)

Die deutsche Uebersetzung wirkt manchmal holperig bzw. veraltet, vgl. etwa S. 48: „ ... spricht die Mutter Jesu zu Ihm: Sie haben nicht Wein. Jesus spricht zu ihr: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“ Oder S. 141: „Als aber das Volk im Wahn war, und dachten alle in ihren Herzen von Johannes, ob er vielleicht Christus wäre“ ... (vgl. Luk. 3,15).

Alles in allem: das Werk bedeutet keinen Gewinn für die deutschsprechenden Leser, denen wahrlich bessere Hilfsmittel auf diesem Gebiet zur Verfügung stehen. Dieser „Weg“ ist kein Weg . . .

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