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Im Zeichen Kierkegaards

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Lange vor der existentialistischen Mode unserer Tage, die man keinesfalls mit der sehr ernstzunehmenden Existenzphilosophie verwechseln darf, hat die Schülerin Theodor Haeckers die Bedeutung Kierkegaards erkannt und seinen Anruf in diesem Roman, der bereits in den zwanziger Jahren entstanden ist, aufgenommen. (Das Werk erschien fortsetzungsweise 1934 in der „Wiener Zeitung“ unter dem symbolischen und unseres Erachtens weitaus besseren Titel .Das Asyl zum obdachlosen Geist“.)

Die Kenner Kierkegaards werden in der Figur John Kellingraths, des Geistmenschen, den seine allen Konventionen des „Man“ verfallene Familie ins Irrenhaus „St. Stefan“ bringt, der hier den ärztlichen Freund, dem die Dichterin die Erzählung seines Schicksals anvertraut, der hier die „absolute“ Liebe der einzig für ihn geschaffenen lebensvoll-warmen, mit aller echten Realität vertrauten Frau, die wiederum dem Arzt zum verhängnisvoll entscheidenden Schicksal wird, erfährt, die Kenner Kierkegaards also werden in John Kellingrath unschwer die eine Seite des großen Dänen erkennen: die ethische Existenz des „B.“ aus .Entweder-Oder“. Die andere Seite, die religiöse Existenz, das .absolute Gewissen“, das der Prediger Kierkegaard in seinen „Religiösen Reden“ wachrütteln wollte, ist in der Figur von Kellingraths Jugendfreund in der Gestalt des sektiererischen Pastors verkörpert. Beide sind Erscheinungsformen des einen protestantisch-pietistisch-spiritualistischen Geistes, dessen kalvinische Spielart mit ihrem furchtbaren Prädestinafions-glauben zum tragischen Scheitern verurteilt sein muß.

Das katholische Gegengewicht könnte die Figur des erzählenden Arztes sein, wenn — dies bedeutet seine Tragik — dieser eben nicht ein Kind des aufgeklärten 19 Jahrhunderts wäre, dem die theologischen Fundamente fehlen, oder besser der Mut, seine theologischen Erkenntnisse existentiell zu leben und damit die furchtbare Seelenprobe ganz zu bestehen.

Das tiefste Anliegen der Dichterin — wenn wir sie richtig verstanden haben — kommt nicht nur darin zum Ausdruck, daß sie die edelsten Menschen: Kellingrath, den Arzt, Pauline Waißnix in den „Grenzsituationen“ einer Irrenanstalt zur existentiellen Selbstentfaltung — die einzige Möglichkeit, die ihnen von der Welt dazu gelassen wird — kommen läßt, sondern ihr Anliegen ist auch religiös-tiefenpsychologisch. Sie will uns auf der „Geisterszene“ der Existenz in das tiefste Geheimnis menschlichen Seelenlebens einführen und zeigen, daß die menschliche Seele, konstituiert von Gott, ein heiliges Noli me tangere“ ist, ein Unberührbares, das nur durch die Barmherzigkeit des göttlichen Du gehalten und gerettet werden kann. Darum scheitert Kellingrath, weil er dieser echten Du-Be-ziehung nicht fähig war. (Man lese die erschütternde Briefstelle: .So kommt es, daß alle Liebe bei mir notwendig mit Selbsthaß gepaart erscheint...“)

An dem Selbsthaß des Geliebten muß auch Pauline zugrunde gehen, so wie der ärztliche Freund, der wiederum zur echten Entsagung zu schwach ist. — Auf dem Sterbelager kommt Kellingrath die Erleuchtung: „Zu Gott-Vater langt's nicht mehr — man muß barmherzig sein.“ Das ist die Uberwindung des unbarmherzigen Prädestinationsglaubensl Fast wünschte man, daß das Buch mit diesen Worten schlösse. Aber die große Kompositionskunst Martina Wieds — wieviel könnte man über all die Kontrastfiguren dieses Buches, das zugleich ein gesellschaftskritischer Roman der Jahrhundertwende ist, sagen! — duldet keine Verletzung des dramatisch epischen Gesetzes, nach dem ihre Charaktere angetreten sind. Die menschliche Existenz, die, auf sich allein gestellt, dies absolut verwirklichen will, muß zugrunde gehen. Das ist das Aufrüttelnde, Gegenwartsnahe, .Existentialistische“, wenn wir so wollen, dieses großartigen Buches, für das wir Martina Wied ehrlich danken müssen.

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