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Überdruß am Überfluß

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DIE ERSCHRECKENDE ZIVILISATION. Salzburger Humanismusgespräche. Herausgegeben von Oskar Schatz. Im Europa-Verlag,Wien— Frankfurt — Zürich. 273 Seiten. S 160.—.

Rettet den Menschen! Nicht wie vordem vor Naturgewalten, sondern vor der Automatik eines von ihm selbst bereiteten, geduldeten, geförderten und autonom gewordenen gesellschaftlichen Systems. Der Schrei aus berufenem oder unberufenem Munde gellt mehr und mehr auf, zwischen Hochhäusern und Autobahnen, Reaktoren und „Paradiesen“ des Massentourismus, zwischen Werbemedien, Rüstungsindustrie und Sozialpolitik. Überraschend ist dabei die Gleichzeitigkeit zweier völlig entgegengesetzter Rufe nach dem Glück. In den östlichen Ländern und in der Dritten Welt erhebt sich der Ruf nach der freien Marktwirtschaft, nach höherem Lebensstandard und mehr Möglichkeiten des Konsums. Im Westen hingegen, wo eben diese Errungenschaften den Tisch mit Überfluß gedeckt haben, sprechen Sozialkritiker, revolutionäre Jugend und engagierte Künstler und Christen bereits offen aus, was viele im Herzen empfinden: Konsum macht nicht glücklich. Ist das alles nur ein simples Phänomen der alten Erfahrung, daß der Mensch immer just das haben will, was er nicht hat? Oder sitzt wirklich ein „Wurm“ in den Systemen, ein Anteil des Teufels, ein erbsündiger Fluch?

Österreich, nicht nur geographische und historische Mitte, mit seinem gemäßigten ideologischen Klima, der glücklichen Naivität seiner disengagierten Bürger, ist vielleicht das rechte Reservat, um das Unbehagen an der Konsumwelt in aller Ruhe zu diskutieren. Oskar Schatz lud unter der Patronanz des ORF in Salzburg zu einem Symposium, bei dem Fachwissenschaftler das zur Sprache bringen sollten, was in ihrer Disziplin zu wenig zur Sprache kommt: den Menschen im System. Es kamen Miguel Siguan Soler, Norbert Leser, Eckhart Heimendahl, Leo Kofle.r Alfons Rosenberg, Mihailo Mar-covic und andere. Die Vorträge der Genannten und Schwerpunkte ihrer Diskussion untereinander und mit den übrigen Teilnehmern sind nun in einem Band zugänglich, der die Beachtung der Leser, die an Zeitproblemen interessiert sind, verdient. „Sicher ist“, bemerkt der Herausgeber in seiner Einleitung, „daß sich der Humanismus unter den Bedingungen der modernen industriellen Zivilisation grundlegend von der historischen Bewegung gleichen Namens unterscheiden wird.“ Die Gewichte verlagern sich von der Elite zur Masse, von der Arbeit zur Freizeit, von der Produktion zum Konsum, von der Aktivität zur Passivität. Das sind einsichtige Erkenntnisse, die man in den letzten Jahren von vielen Publizisten, etwa auch von Karl Bednarik („Die Krise des Mannes“), oder Roland Nitsche „Der häßliche Bürger“) vernehmen konnte.

Der neue Humanist entscheidet, ob er die gesellschaftliche Struktur der heutigen Zivilisation trotz ihrer bedrohlichen und selbstzerstörerischen Züge grundsätzlich anerkennen und verbessern will, oder ob er sie überhaupt ablehnt. Die letzte Position ist rhetorisch wesentlich leichter, praktisch jedoch wesentlich schwieriger. Denn wer diese Gesellschaft radikal ablehnt, muß den Punkt außer der Welt suchen, von dem die Welt aus den Angeln zu heben ist.

In den Beiträgen des Bandes finden sich beide Positionen in mehr oder minder starker Ausprägung; als Antipoden stehen Marcuse und Leser. Wobei Marcuse, faszinierend im Stil und Effekt, schon von seinem Auftritt her der Widerspruch nachzuweisen ist. Der Boden, auf dem er steht,. schränkt seine Glaubwürdigkeit ein. Die letzten Dinge, die er predigt, wären schlimmer als die ersten. Als furchtbare Utopie freilich, als Denkmodell, von dem aus radikal zu überprüfen wäre, was an unserer Gegenwart so falsch und inhuman ist, kann man seine Exposition anerkennen. Der Geist, der verneint, leistet seinen Anteil am Fortschritt.

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