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Osteuropa ohne Plandogma
Etwas früher als seinen geistigen Urenkeln war es Karl Marx aufgegangen: Der Reichtum der kapitalistischen Gesellschaften erscheint als eine „ungeheure Warenfülle“. Mit diesen Worten begann Marx vor hundert Jahren sein „Kapital“. Er nannte das Verhältnis der Menschen zu den Waren, die sie erzeugen, „gaukelspielerisch“ und schrieb den Waren etwas Geheimnisvolles, einen Fetischcharakter zu. An solchen marxistischen Vorstellungen gemessen, scheint nun seit einiger Zeit im Osten der waht-e „Fetischismus“ ausgebrochen zu sein.
Der Anstoß zum wirtschaftlichen Umdenken kam vor sechzehn Jahren von dort, wo auch die ideologische „Ketzerei“ des modernen Kommunismus geboren wurde: aus Jugoslawien. Tito hatte als erster erkannt, daß nicht der zentrale Staatsplan, sondern nur ein hohes Maß von eigener Verantwortlichkeit der wirtschaftlichen Einheiten, also der Betriebe und Wirtschaftszweige, eine Gesundung sozialistischer Ökonomie erhoffen läßt. Wenn dies dennoch — selbst durch kräftige Kreditspritzen aus dem Westen — in Jugoslawien nicht ganz gelang, so gehört das gewiß zu den herben Enttäuschungen, die Tito seinen Bewunderern immer wieder bereitet. Alle wirtschaftlichen Reformen im Ostblock orientieren sich aber auch heute an diesem jugoslawischen Vorbild: einfach weü es als einziges Modell mit der Kennmarke „sozialistisch“ gewisse Vorzüge des westlichen Systems einzuführen erlaubt.
Was da nun im ökonomischen Gefüge der meisten osteuropäischen Länder vor sich geht — vielfältig und widerspruchsvoll — gleicht einer stillen Revolution. Sie ist bisher am weitesten wohl dort gediehen, wo das innenpolitische Klima am steifsten geblieben ist: in der DDR. Ihr „neues ökonomisches System“ setzt sich langsam, aber sichtbar durch. Es beruht, wie Erich Apel, der Chef der Plankommission, Mitte Jänner darlegte, auf der Anwendung „wichtiger ökonomischer Hebel, wie Preis, Kosten, Gewinn, Lohn, Prämie“ — also auf Selbstverständlichkeiten, wenn man mit westlichen Maßstäben mißt. Doch die „Hebel“ stemmen die bisherige Planwirtschaft aus ihrer unbeweglichen Enge. „Wir betrachten den Plan nicht als ein starres, abgeschlossenes Dokument“, sagte Apel zum Plan für 1965. Die zentrale Plandiktatur ist soweit gelockert, “daß nur noch allgemeine Indexzahlen ausgegeben werden. Die Industrievereinigungen planen und kalkulieren selbst; die zweite Etappe einer Preisreform für Rohstoffe, die am 1. Jänner begann und die im kommenden Jahr auch die Preise in der Schwer- und Leichtindustrie erfassen soll, beseitigt künstliche Subventionen und erlaubt den Betrieben, zu errechnen, was die Waren, die sie produzieren, wirklich kosten.
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