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CSSR: Ungarischer Weg?

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Er ist ein Realist oder wie Ota Sik ihn charakterisierte, Realpolitiker und Opportunist zugleich: Gustav Husäk, nach außen hin seit einigen Wochen der angeblich starke Mann der Tschechoslowakei. Es wäre eine Mißdeutung der Situation, wenn man annähme, die Ämieikumulierung Parteichef plus Staatsoberhaupt habe in unserem Nachbarland einen neuen Ceausescu oder Schiwkoff entstehen lassen. Husäks Aufstieg ist Teil eines Versuchs, vorderhand noch mit Billigung Moskaus oder besser gesagt Leonid Breschnjews, die Stalinisten Bilak, Indra und Hoffmann von den Fleischtöpfen der Macht fernzuhalten. Sie passen momentan eben nicht in das Moskauer Entspannungskonzept.

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Er ist ein Realist oder wie Ota Sik ihn charakterisierte, Realpolitiker und Opportunist zugleich: Gustav Husäk, nach außen hin seit einigen Wochen der angeblich starke Mann der Tschechoslowakei. Es wäre eine Mißdeutung der Situation, wenn man annähme, die Ämieikumulierung Parteichef plus Staatsoberhaupt habe in unserem Nachbarland einen neuen Ceausescu oder Schiwkoff entstehen lassen. Husäks Aufstieg ist Teil eines Versuchs, vorderhand noch mit Billigung Moskaus oder besser gesagt Leonid Breschnjews, die Stalinisten Bilak, Indra und Hoffmann von den Fleischtöpfen der Macht fernzuhalten. Sie passen momentan eben nicht in das Moskauer Entspannungskonzept.

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Diese Situation kann sich natürlich mittelfristig ändern, gab auch Ota Sik während einer nachmittäglichen Unterhaltung in seinem St. Gallener Exil zu. Aber vorderhand zeichnet sich nichts Derartiges ab.

Fest steht: Gustav Husäk bleibt genau ein Jahr Zeit, um seinen Widersachern im Parteiapparat zu beweisen, daß er fähig ist, beide Ämter auszufüllen. Er geht jetzt offenbar dazu über, seine Hausmacht zu festigen. Personelle Verschiebungen auf wichtigen Regierungs- und Parteiposten sind für die nächste Zeit angesetzt. Derartige Veränderungen, mit denen sich der 62jährige Slowake Husäk vor allem eine sichere Basis für seine Funktion als Parteichef schaffen will, werden vermutlich während der nächsten Zentralkom-miteesitzung ausgesprochen.

Die Husäk gesetzte Jahresfrist endet mit dem 15. Parteitag der KPC, der voraussichtlich im Mai des nächsten Jahres stattfinden wird. Zwar steht diese Frist nirgendwo offiziell geschrieben, doch die augenblickliche politische Atmosphäre im Lande und kommende Ereignisse könnten Husäk dazu zwingen. Da ist zum Beispiel die bevorstehende Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien in Ost-Berlin — auf der ein für Husäk unangenehmes Auftreten der früheren Reformergruppe erwartet wird —, und last, not least, der 25. Parteitag der sowjetischen KP. Es ist damit zu rechnen, daß Husäks Beschützer Leonid Breschnew auf diesem Parteitag zurücktritt.

Aber nicht nur die rein außenpolitischen Fragen sind es, die nun das ganze politische Geschick Husäks verlangen. Nach einer Lösung drängen auch eine Reihe innenpolitischer

Probleme, die in dieser kurzen Zeitspanne vom Tisch müssen.

Daß diese Probleme der Partei auf den Nägeln brennen, zeigt allein schon die Tatsache, daß das Zentralkomitee jetzt zum 3. Male seit Ende Aprü zusammentreten soll. Allgemein übliche Praxis in der Vergangenheit war es, zwischen zwei Sitzungen des Parteigremiiums sechsmonatige Pausen einzulegen.

Die Wahl Husäks zum Staatspräsidenten und die sich daraus ergebende Doppelfunktion sind wohl nur der Anfang einer Reihe von Bewegungen. Hinter diesen Veränderungen stehen nicht nur Namen von Politikern, sondern auch spürbare Nuancierungen in der politischen und ideologischen Praxis. So fiel es in letzter Zeit auf, daß hohe Parteifunktionäre unter Hinweis auf die Probleme des Westens ständig betonten, daß der Sozialismus von „solchem Kummer“ verschont bliebe. Andere hingegen, unter ihnen auch Husäk, verschweigen nicht, daß die Wirtschaftsflaute der westlichen Welt ihre Schatten zunehmend auf die tschechoslowakische Wirtschaft wirft.

In wichtigen Industriezweigen, etwa in der Chemiebranche, machen sich Absatzschwierigkeiten auf den ausländischen Märkten immer stärker bemerkbar. Auf dem Binnenmarkt werden einige Artikel, vor allem Möbel, zur Mangelware. Die aus familienipolitischen Gründen gewährten Darlehen an junge Ehepaare können nicht in gewünschtem Maß investiert werden. Der Mangel an Einrichtungsgegenständen ruft neuerdings Unzufriedenheit, besonders unter jungen Leuten hervor.

Nach der Auffassung Ota Siks wird Husäk gar nichts anderes übrigbleiben, als den ungarischen Weg zu gehen, nämlich nach außen hin strikte Befolgung der sowjetischen Doktrinen, verbunden mit weitgehender wirtschaftlicher Liberalisierung im Inneren des Landes. In diesem Falle, sc Sik, ist die Wirtschaft stärker als die Politik und die Automatik „Konsumfreiheit — persönliche Freiheit“ gegeben.

Sieben Jahre nach dem ungarischen Aufstand hatte Jänos Kädär schon längst wieder Reformen eingeleitet, in der CSSR hingegen marschiert man noch im Rückwärtsgang. Husäk muß diese Entwicklung unterbrechen, wenn er sein persönliches Credo und seine Machtposition glaubhaft machen will. Andernfalls eröffnen sich Bilak und Co. ungeahnte Chancen — zum Nachteil des tschechoslowakischen Volkss. Und auch an der Kulturfront muß grünes Licht gegeben werden: Denn ein Volk, daß geistig und wissenschaftlich ins Hintertreffen gerät, muß dies eines Tages mit technologischem und wirtschaftlichem Rückgang bezahlen.

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