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Der alte Mensch als geduldiges Wesen

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Kein Zweifel: Nicht nur der sich langsam., aber sicher auflösende Familienverband ist ein typisches Kennzeichen unserer Zeit. Auch die altenfeindlichen Tendenzen in unserer heutigen Gesellschaft sind ein unliebsames, den meisten Zeitgenossen gar nicht bewußtes, von vielen aber widerspruchslos geduldetes Abfallprodukt der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft.

Es wäre jetzt etwas einfach und naiv, zu verlangen, wir sollten wieder zu gehabten agrarischen Formen des Zusammenlebens zurück- finden, die 3-Generationen-Woh- nung zum Standard erklären und die ohnehin aus allen Nähten platzende Pensionsversicherung durch eine Neuauflage des Ausgedinges Jur überflüssig erklären. Das hieße kulturelle, soziologische und ökonomische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte verleugnen.

Es sei aber die Frage gestellt, ob die Rolle, die unsere Gesellschaft dem alten Menschen beimßt, einer bald zweitausendjährigen Entwicklung christlicher Ideen schmeichelt? Ob es notwendig, ob es durch irgendeinen Grundsatz gerechtfertigt erscheint, daß wir einen derart harten Trennungsstrich ziehen zwischen der Generation der „Schaffenden“ und der Generation der im Ruhestand (schon das Wort allein spricht Bände: Wie kommen wir eigentlich dazu, uns sagen lassen zu müssen, daß wir ab 65 in „Ruhe stehen“ müssen?) Befindlichen?

In letzter Zeit scheint es sich immermehr herumzusprechen, daß die wohlfahrtsstaatliche Vorsorge allein nicht den Schlüssel zum ewigen Glück liefert: Eine halbwegs ausreichende Pension, die pünktlich ausgezahlt wird, eine entsprechende soziale und medizinische Vorsorge, viel Freizeit, in der man ins Wirtshaus oder zu diversen Kollektivbelustigungen von Pensionistenverbänden gehen kann. Schön.

Die aufgezählten Dinge erfüllen alle ihren Zweck, ja die Arbeit der Pensionistenverbände und der vielen oft anonymen Unterstützungsvereine ist von unschätzbarem Wert. Aber will sich der alte Mensch überhaupt selbst als rundherum betreutes, passives und krankes Wesen verstehen, das letztlich als gesellschaftlicher Einsiedler seinen Lebensabend „absitzt“?

In der Analyse all der Mängel sind sich die Politiker ziemlich einig. Auch der Sozialversicherungsmann der SPÖ, Edgar Schranz, sprach kürzlich vor dem Kummer-Institut davon, daß sich der alte Mensch nicht gängeln und bevormunden lassen dürfe, daß die Verarmung an sozialen Kontakten eine Reaktivierung von Nachbarschaftshilfe und sonstigen privaten Hilfsdiensten notwendig erscheinen lasse, daß die Wirtschaft endlich einmal die Bedeutung des Marktes der alten Menschen erkennen sollte. Es ist auch wichtig, daß die Politiker erkennen, wie sehr der ganze Lebens- rhytmus - angefangen von den kurzen Ampelphasen bis zu den hohen Trittbrettern in der Eisenbahn - auf den leistungsfähigen, gesunden und jungen Menschert abgestimmt ist.

Wie sehr der alte Mensch als der geduldige, alles hinnehmende, nicht gleichrangige Partner der Gesellschaft gesehen wird, zeigt auch sehr deutlich die Tatsache, daß der Finanzminister jetzt schon darangeht, seine löchrigen Säcke mit Hilfe der Pensionisten zu stopfen.

Das Faktum, daß im Vorjahr der allgemeine Verbraucherpreisindex eine Jahresinflation von 7,3 Prozent und daß der spezielle Pensionistenindex auf Grund der starken Abhängigkeit der Älteren von den besonders rasch gestiegenen öffentlichen Tarifen sogar rund 8 Prozent ergeben hat, während die Pensionen nur mit 7 Prozent dynamisiert wurden, läßt sich halt auch mit noch soviel nonchalanter Eloquenz nicht hinweg diskutieren.

Seniorenbund-Obmann Hermann Withalm formulierte kürzlich auf einer Pressekonferenz: ,JDie Pensionisten sind die einzigen in Österreich, die vom realen Wachstum ausgeschlossen sind.“

Herbert Kohlmaier rechnete ein besonders alarmierendes Beispiel vor: Ein 72jähriger Wiener Pensionist bekam 1976 eine Bruttopension von 3728 Schilling. Bei einer angekündigten Pensionserhöhung um 6,9 Prozent erhält er nächstes Jahr 4264 Schilling. Das heißt, die Bruttopensionserhöhung wird in diesen zwei Jahren 14,4 Prozent, die geschätzte Inflation 14,7 Prozent ausmachen. Nicht genug damit: Der Mann kommt in die Steuerschraube, die bewirkt, daß seine Nettopension gar nur um 11,3 Prozent wächst. Die reale Einkommenseinbvße beträgt in diesem Fall, wie in tausenden ähnlichen, rund 1000 Schilling.

Daß man mit alten Menschen so verfahren kann, hängt damit zusammen, daß ihr Wohlverhalten nicht in Frage steht. Hätten sie eine Gewerkschaft im Rücken, könnten sie zu einem Streik aufrufen, dann wäre die Situation eine andere.

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