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Der Nutzen triumphiert, die Vielfalt schwindet

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Wirtschaftliche, politische, soziale Probleme verblassen neben einem Ereignis von erdgeschichtlicher Tragweite, das der Mensch auslöste: Seit dem Verschwinden der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren gab es kein so umfassendes Aussterben von Tieren und Pflanzen wie das, welches wir heute miterleben.

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Wirtschaftliche, politische, soziale Probleme verblassen neben einem Ereignis von erdgeschichtlicher Tragweite, das der Mensch auslöste: Seit dem Verschwinden der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren gab es kein so umfassendes Aussterben von Tieren und Pflanzen wie das, welches wir heute miterleben.

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Der Mensch dürfte heute die einzige Art sein, die auf der Erde explosionsartig zunimmt und ihren Lebensraum auf Kosten der noch vorhandenen Natur rücksichtslos vergrößert. Wie die Verlustbilanzen der Roten Listen eindringlich dokumentieren, sind dieser Ausrottung bereits zahlreiche Lebewesen zum Opfer gefallen. Dabei werden vorwiegend Großtiere und Blütenpflanzen beklagt und aufgelistet, der „lautlose Tod“ der unzähligen Mikroorganismen dringt kaum in unser Bewußtsein.

Auch in der geologischen Vergangenheit sind Arten ausgestorben, an deren Stelle aber immer wieder neue Formen getreten. Der Mensch von heute entscheidet, was morgen und übermorgen neben ihm noch leben darf und kann. Er greift irreversibel in das Entwicklungsgeschehen ein und unterbricht die Evolution.

Für den Artenschutz werden zahlreiche Gründe (ökologische, genetische, ökonomische, religiöse, ethische, kulturelle und ästhetische) angeführt. Hauptziel muß jedoch die Erhaltung der Artenvielfalt, der Schutz aller freilebenden Lebewesen innerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes sein, um die weitere Entwicklung der Arten zu gewährleisten.

In Mitteleuropa hat durch die Kulturtätigkeit des Menschen die Zahl der Arten, Lebensräume und Lebensgemeinschaften bis zum Beginn des industriellen Zeitalters sogar zugenommen. In diesen Kulturlandschaften war ein Nebeneinander von Wiesen, Feldern und Wäldern, Flurgehölzen, Hek-ken, Feuchtgebieten, Böschungen, Hohlwegen, naturnahen Bachläufen, Lese- und Trockensteinmauern, Feldrainen, Gräben und so fort vorhanden. Diese Strukturvielfalt wurde durch die Intensivierung und Rationalisierung der Landwirtschaft, durch den Flächenbedarf für Bauten, Erholungszwecke und Verkehr radikal zerstört.

Viele Ackerwildpflanzen haben die „chemische Sense“ und die Saatgutreinigung nicht vertragen und sind verschwunden. Entwässerungen, Bachkanalisierungen, Düngung, die Eutrophierung der Böden und Gewässer haben besonders für Arten mit engen Lebensansprüchen (stenöke Arten) den Untergang bedeutet. Viele bedrohte Arten findet man unter den Bewohnern von Feuchtgebieten, Trocken- und Sonderstandorten (Serpentin-, Galmei-, Salz- und Sodaböden, Dünen). Forstwirtschaftliche Maßnahmen wie die Umwandlung von Laubwäldern in Nadelwälder, die Aufforstung von Grenzertragsböden und Wiesentälern und die weitgehende Entfernung von Alt- und Tothölzern haben vielen Organismen die Lebensmöglichkeiten genommen. Schließlich hat auch der Tourismus in empfindlichen Lebensräumen (Moore, Seeufer, Dünen, alpine Rasen) einen Artenrückgang mit verschuldet.

Natürliche und naturnahe Ökosysteme (Wälder, Moore, Flußläufe, Seen, alpine Rasen), die „Betriebseinheiten der Natur“, sind immer komplexe Wirkgefü-ge, in denen die einzelnen Arten einen festen .Planposten“ und .Arbeitsplatz“ haben. Der biologische Verbund von Lebewesen zu Populationen (Fortpflanzungsgemeinschaften), Lebensgemeinschaften (Biozönosen) in ganz konkreten Lebensräumen (Biotopen) und ökologischen Systemen, verleiht diesen Eigenschaften und Qualitäten, die die einzelnen Teile nicht aufweisen. Ein Wald ist immer mehr als eine zufällige Anhäufung von Bäumen, Sträuchern, krautigen Pflanzen und Waldtieren. Eine Baumart kann nur in diesem Be-ziehungsgefüge erfolgreich überleben. Der Artenschutz darf sich nicht auf den bloßen Schutz einzelner Pflanzen oder Tiere beschränken, Schutzziel muß das gesamte Ökosystem sein.

* Aus diesen Gründen ist ein Schutz gefährdeter Arten aufgrund der Roten Listen allein unzureichend.

Noch immer steht in unseren Artenschutzverordnungen — ein Relikt des klassischen Naturschutzes — der „vollkommene“ und „teilweise“ Schutz einzelner Arten an erster Stelle. Trotz aufwendiger Biotopkartierungen sind wir von einem wirksamen Ökosystemschutz weit entfernt. Dringend notwendig wäre vor allem ein sofortiger, genereller Schutz aller Feuchtgebiete und Grenzstandorte. Die bisherigen Landschafts- und Naturschutzgebiete waren und sind für den Artenschutz völlig unzureichend. In ihnen hat vielfach die Nutzung, haben Land- und Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei Vorrang. Außerdem sind sie meist nur Schutzgebiete auf „Abruf“, die bei entsprechenden wirtschaftlichen Interessen sofort aufgegeben werden.

Verantwortungsbewußter Naturschutzdarf sich nicht mit „Raritätenbiotopen“ zufrieden geben, die womöglich in einer ausgeräumten Agrarlandschaft als isolierte „ökoinseln“ und genetisch isolierte „Naturschutzghettos“ übriggeblieben sind. Nur ein Verbund von Ökosystemen, zwischen denen ein genetischer Austausch unter den einzelnen Populationen möglich ist, kann langfristige Artensicherung gewährleisten.

In „Naturschutzgebieten aus zweiter Hand“, durch Einbürgerungsversuche, in Genbanken, Botanischen und Zoologischen Gärten allein, durch ein weit verbreitetes, kleinkariertes „Arche-Noah-Denken“, ist der Artentod nicht aufzuhalten.

Der Autor leitet das Institut für Umweltwissenschaften und Naturschutz der österreichischen Akademie der Wissenschaften in Graz.

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