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Der Staat steht nun im Abseits

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Katastrophenserien und wirtschaftlicher Verfall belasten alptraumhaft den Aztekenstaat. Zwischen Aufsässigkeit und Resignation entstehen jedoch unter den mehr als 80 Millionen Bürgern Selbsthilfegruppen. Ihr Prophet ist der Theoretiker Gustavo Esteva.

Zu viele leere Versprechungen (der ölboom sollte breiten Bevölkerungsschichten neuen Wohlstand bringen, aber immer wieder brach der ölpreis ein), zu viele Katastrophen (noch immer sind viele Schäden des Erdbebens vom September 1985 nicht wieder gutgemacht) haben die Mexikaner gelehrt, nichts vom Staat und nichts mehr von der staatstragenden Partei PRI (Partido Revolucionario Institucional) zu erwarten.

Jetzt sinken die Massen derart ins Elend, daß die in indianischer Gleichmut versteckte Aufsässigkeit überall an die Oberfläche drängt.

Typisch ist etwa die Aktion der Näherinnen von San Antonio Abad, von der die mexikanische Publizistin Elena Poniatowski berichtet. Die Textilfabrik, in der die Frauen gearbeitet hatten, wurde vom Erdbeben am 19. September 1985 zerstört.

Als die Werksleitung sich erst einmal um die Rettung des Inventars kümmerte, statt um die Arbeiterinnen, beschlagnahmten die Frauen die geretteten Stoffballen und Maschinen als Faustpfand für ihre Forderung nach Entschädigung. Diese spontane gemeinsame Aktion genügte, um die Frauen weiterimprovisieren zu lassen: Sie eröffneten gemeinsam ein eigenes Geschäft, um selbstgemachte Nähereien und Puppen zu verkaufen, aber auch um auf diese Art ihren Forderungen Öffentlichkeit und Gewicht zu verleihen.

Die bittere Unzufriedenheit und die Aufsässigkeit, die sich so entlädt, sind auch das Thema des Mexikaners Gustavo Esteva. Er schreibt darüber nicht nur in Fachzeitschriften, sondern er hat dafür auch einen lukrativen Job in der mexikanischen Staatsbürokratie aufgegeben.

Jetzt denunziert Esteva mit aller Vehemenz die Modernisierungspolitik, auf welche die mexikanische Regierung in den letzten Jahrzehnten gesetzt hat. Er greift auf altes aztekisches Denken zurück, das „Entwicklung“ immer als Folge von Katastrophen verstanden hat.

„Entwicklung stinkt“, schreibt Esteva unverblümt mit direktem Hinweis auf den Smog in der Hauptstadt. „Wer heute in Mexiko-Stadt lebt und das nicht bemerkt, ist entweder steinreich oder ohne Gefühl!“

Die Reichen können der „Kal-kuttaisierung“ ihrer Stadt entkommen, indem sie ihre Villen immer weiter hinaus an den Stadtrand““ bauen, wo man noch atmen kann.

Die anderen, die große Mehrheit der Bürger, die früher immerhin noch Autonomie, Entscheidungskraft und Selbstbestimmung hatten, sind heute überflüssig geworden.

Esteva und seinen Mitarbeitern geht es um diese unbetreuten Massen. Mit den Kleinsiedlern und den Kleinbauern wollen sie zusammenarbeiten, um das tägliche Uberleben unabhängig von staatlichen Strukturen zu meistern. Und noch mehr: Diese Selbsthilfeaktionen sollen gegen „Entwicklung“ abschotten.

„Entwicklung“, predigt Gustavo Esteva, „bedeutet Verlust und Zerstörung unserer Umwelt, unserer traditionellen Lebensweisen und unserer Vorstellungen über die Wirklichkeit, ohne daß wir dabei anderes gewinnen als wechselnde Expertenratschläge.“

Der Stellenwert Estevas ist noch nicht klar. Aber möglicherweise zeigen sich in Mexiko-Stadt jene Wege, welche die Bevölkerungen einschlagen werden, wenn die überforderten Verwaltungen der Großstädte bei Krisen endgültig zusammenbrechen.

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